Rz. 135
Grundsätzlich herrscht im englischen Recht seit gesetzlicher Aufhebung der Nießbrauchsrechte der Witwe an den Immobilien des Ehemannes (Dower) im 19. Jahrhundert der Grundsatz der Testierfreiheit. Zur Milderung von Härten wurden in England 1938 durch den Inheritance (Family Provision) Act 1938 die Gerichte ermächtigt, zur Sicherung des Unterhalts von abhängigen Angehörigen Anordnungen zu treffen. Dieses Gesetz wurde restriktiv ausgelegt, so dass die Angehörigen ihre Bedürftigkeit nachweisen mussten. Der am 1.1.1976 in Kraft getretene Inheritance (Provision for Family and Dependants) Act 1975 (im Weiteren: Inheritance Act) weitete die Kompetenzen des Gerichts aus. Auch wurde der Kreis der Antragsberechtigten vergrößert.
Rz. 136
Antragsberechtigt sind insbesondere der überlebende Ehegatte bzw. der überlebende Partner aus der civil partnership, aber auch der nicht wieder neu verheiratete geschiedene Ehegatte, Kinder des Erblassers und Personen, die vom Erblasser bis zu seinem Tode Unterhaltsleistungen empfingen. Durch Gesetzesänderung von 1995 wurden nichteheliche Lebensgefährten einbezogen.
Rz. 137
Nicht nur im Rahmen der testamentarischen, auch bei gesetzlicher Erbfolge kann family provision geltend gemacht werden. Praktisch ist dies zum einen deswegen von Bedeutung, weil der gesetzliche Erbteil des überlebenden Ehegatten bei kleinen bis mittleren Nachlässen diesen weitgehend aufzehrt, so dass selbst bedürftige Abkömmlinge nichts erhalten. Zum anderen ist der Kreis der Berechtigten bei der family provision weiter als bei der gesetzlichen Erbfolge: Stiefkinder, nichteheliche Lebensgefährten, Ex-Ehegatten und tatsächliche Unterhaltsempfänger kommen nur über family provision zum Zuge. Zudem sind seit 2014 die Eltern neben dem Ehegatten von der gesetzlichen Erbfolge ausgeschlossen. Hier sind Fälle denkbar, in denen unterhaltsbedürftige Eltern gegen den Ehegatten als gesetzlichen Alleinerben familiy provision geltend machen können.
Beispiel
In Sivyer v. Sivyer erhielt die dritte Ehefrau des Erblassers im Rahmen der gesetzlichen Erbfolge den gesamten Nachlass. Die Tochter aus zweiter Ehe erhielt als family provision die Hälfte des Nachlasses zugesprochen, da das Vermögen des Erblassers im Wesentlichen von ihrer Mutter, der zweiten Frau des Erblassers stammte.
Rz. 138
Eine Klage auf family provision ist begründet, wenn die testamentarische bzw. gesetzliche Erbfolge den Kläger nicht angemessen (reasonable) finanziell bedacht hat ("on the ground that the disposition of the deceased’s estate effected by his will … is not such as to make reasonable financial provision for the applicant"). Angemessen ist die Zuwendung – ausgenommen ist die Klage durch einen Ehegatten bzw. den Partner aus der civil partnership (dazu Rdn 140) –, wenn sie unter Berücksichtigung aller Umstände angesichts des Unterhaltsbedarfs des Klägers angemessen erscheint. Unterhalt bedeutet dabei nicht das reine Existenzminimum, sondern was der Kläger benötigt, um weder im Überfluss noch ärmlich zu leben, angesichts seiner Lebensumstände bescheiden und angenehm. Sect. 3 (1) Inheritance Act stellt eine Reihe von Kriterien für die Bemessung auf. Es sind die gegenwärtigen und künftigen Bedürfnisse des Klägers wie auch anderer Kläger, Art und Umfang des Nachlasses, die finanzielle Situation der Erben und nicht zuletzt auch Beziehung und Verhalten der Beteiligten zu berücksichtigen. Daher spielt es in der Rechtsprechung z.B. eine Rolle, wenn die Ehefrau den Verstorbenen verlassen hatte, um mit einem anderen Mann zusammenzuleben, oder die Tochter den Verstorbenen hingebungsvoll gepflegt hatte.
Rz. 139
Das Gericht hat über die Klage nach seinem Ermessen zu entscheiden. Family provision kann in folgenden Formen gewährt werden:
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Das Gericht kann wiederkehrende Zahlungen anordnen. Diese können auf einen bestimmten Betrag oder einen Bruchteil der Erträge aus dem Nachlass lauten. Eine derartige zeitlich befristete Anordnung wird der Regelfall sein, wenn der Antragsteller Kind des Erblassers ist und die family provision dessen Unterhalt bis zur Beendigung der Ausbildung sichern soll. Der Witwe wird eine entsprechende Zahlung regelmäßig auf Lebenszeit gewährt – am ehesten dann, wenn diese bereits sehr alt oder der Nachlass umfangreich ist; |
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eine Einmalzahlung, die gem. Sect. 7 Inheritance Act auch in Raten gestundet werden kann. Dies ist die Regel bei Klagen durch den Ehegatten des Verstorbenen und bei kleinen Nachlässen, die keine brauchbare Unterhaltsrente hergeben; |
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die Zuweisung von bestimmten Vermögensgegenständen, wie z.B. eines im Nachlass befindlichen oder im Rahmen der Hinzurechnung einbezogenen (siehe Rdn 153) Wohnhauses. Dies kann ggf. auch davon abhängig gemacht werden, dass der Kläger einen (teilweisen) Ausgleich in den Nachlass zahlt; |
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Vermögensgestaltungen wie die Bildung eines trust zugunsten eines geschäftsunfähigen Angehörigen aus einem Teil des Nachlasses; |
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Anschaffung v... |