I. Internationales Erbrecht
Rz. 232
Das internationale und materielle Erbrecht ist in Kanada nicht einheitlich geregelt, sondern Partikularrecht der Provinzen. Auch ein einheitliches interlokales Privatrecht i.S.v. Art. 46 Abs. 1 EuErbVO gibt es in Kanada nicht. Daher ist ggf. gem. Art. 36 Abs. 2 Nr. 1 EuErbVO unmittelbar das Recht der kanadischen Provinz anzuwenden, in der der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Das schließt allerdings gem. Art. 34 Abs. 1 EuErbVO das in dieser Provinz geltende internationale Erbkollisionsrecht mit ein. In den anglophonen kanadischen Provinzen wird das Erbstatut übereinstimmend entsprechend den Grundsätzen des englischen common law (siehe Rdn 111) angeknüpft. In der Provinz Québec wird gem. Art. 3098 c.c.q. die Erbfolge des beweglichen dem Wohnsitz- und die Erbfolge des unbeweglichen Nachlasses dem jeweiligen Belegenheitsrecht unterstellt. Unterschiede zum Recht der anglophonen Provinzen ergeben sich praktisch kaum, da der Wohnsitz und andere Begriffe inhaltlich weitgehend dem common law angeglichen worden sind. Zwar kann der Erblasser gem. Art. 3099 c.c.q. u.a. auch sein Heimatrecht zum Erbstatut bestimmen. Diese Rechtswahl lässt aber die nach dem objektiv bestimmten Recht dem Ehegatten und einem Kind zustehenden Rechte unberührt. Das Pflichtteilsrecht ist also "rechtswahlresistent".
II. Pflichtteilsrecht in den anglophonen Provinzen
Rz. 233
In den Rechten der anglophonen kanadischen Provinzen ist die Testierfreiheit durch Noterbrechte o.Ä. nicht beschränkt. Jedoch bestehen Ansprüche gegen den Nachlass für den überlebenden Ehegatten auf der Basis sog. dependants’s relief acts. Diese sind dem englischen Inheritance Act vergleichbar (siehe Rdn 135). Bei "unangemessener" testamentarischer Benachteiligung bestehen solche Ansprüche auch für die Abkömmlinge und den geschiedenen Ehegatten. Der Kreis der Berechtigten ist in den einzelnen Provinzen unterschiedlich weit gezogen. In der Provinz Ontario z.B. sind auch Aszendenten, Geschwister und ein nichtehelicher Lebensgefährte, mit dem der Erblasser mindestens drei Jahre lang eheähnlich zusammengelebt hat, begünstigt. Letzterer (common law spouse) ist in fast allen Provinzen einem Ehegatten erbrechtlich gleichgestellt – und geht diesem sogar erbrechtlich vor. Das Gleiche gilt für die Partner einer gleichgeschlechtlichen Ehe. Von der Anspruchsbegründung, der Berechnung und vom Verfahren her werden die Regelungen der family provision in den einzelnen Provinzen sehr unterschiedlich großzügig ausgelegt. So erlaubt das Recht von British Columbia auch die Zuweisung von Nachlass an volljährige und wirtschaftlich selbstständige Kinder des Erblassers. In der Rechtssache Tataryn hat der Supreme Court of Canada der Witwe des Erblassers sogar 94 % des Nachlasses zugesprochen, obwohl diese nach dem Testament nur einen Nießbrauch an der Familienwohnung erhalten sollte. Der Ehegatte hat zudem im Erbfall Anspruch auf – dem Zugewinnausgleich vergleichbare – Teilung des ehelichen Vermögens oder einen bestimmten Geldbetrag als "Voraus" – wobei allerdings auch hier die Regelung differiert: In manchen Provinzen erhält der Ehegatte den Zugewinnausgleich zusätzlich zu den erbrechtlichen Ansprüchen, in anderen muss er zwischen Erbrecht und dem güterrechtlichen Ausgleich wählen (election).
Rz. 234
Das Erbrecht der Provinz Québec basiert auf dem traditionellen französischen Recht vor Erlass des code civil (coutumes de Paris). Anders als der französische code civil gewährt allerdings Art. 703 c.c.q. absolute Testierfreiheit. Der überlebende Ehegatte, der geschiedene Ehegatte, Abkömmlinge und ggf. auch Aszendenten können gem. Art. 684 c.c.q. gegen den Nachlass allenfalls Unterhaltsansprüche geltend machen. Diese werden gem. Art. 688 c.c.q. bis zum Betrag von 10 % des Nachlasses in Form einer Einmalzahlung gewährt. Schenkungen des Erblassers innerhalb der letzten drei Jahre vor dem Tod werden in diesen Nachlasswert einbezogen. Der Anspruch ist gem. Art. 684 c.c.q. innerhalb von sechs Monaten nach dem Tod des Erblassers geltend zu machen. Der überlebende Ehegatte kann daneben gem. Art. 416 c.c.q. die – wohl dem Ehegüterrecht zuzuordnende – Teilung des "Familienvermögens" verlangen.