1. Europäische Erbrechtsverordnung
Rz. 42
Für ab dem 17.8.2015 eingetretene Erbfälle ist in Frankreich das Erbstatut nach den Vorschriften der EuErbVO zu bestimmen. Dabei ist für die Formwirksamkeit eines Testaments vorrangig das Haager Testamentsformübereinkommen vom 5.10.1961 zu beachten.
Die Aufgabe zur Erstellung von Europäischen Nachlasszertifikaten ist in Frankreich den Notaren übertragen worden.
Durch zwei Urteile vom 27.9.2017 (Cass civ 1 arret no. 1004 und no. 1005) in den Erbfällen Maurice Jarre und Michel Colombier hat die Cour de Cassation entschieden, dass es nicht gegen den französischen ordre public verstoße, wenn das kalifornische Erbrecht den volljährigen und wirtschaftlich nicht bedürftigen Kindern des Erblassers (in beiden Fällen Komponisten mit französischer Staatsangehörigkeit, die in Frankreich Kinder hinterließen) ein Pflichtteilsrecht gegenüber der zur Alleinerbin eingesetzten Ehefrau des Erblassers versage. Es sei nicht zulässig, die entsprechende Pflichtteilsregelung abstrakt einer Prüfung zu unterwerfen. Vielmehr müssten die konkreten Auswirkungen auf den Einzelfall auf ihre Vereinbarkeit mit den als wesentlich angesehenen Grundsätzen des französischen Rechts geprüft werden. In beiden Fällen wies das Gericht darauf hin, dass der Erblasser schon seit mehr als 30 Jahren in den USA gelebt habe und die Kinder volljährig seien und weder bedürftig noch finanzschwach waren.
Diese Entscheidungen ergingen zwar noch zu Fällen, die nach nationalem Erbkollisionsrecht zu entscheiden waren. Da auch in Art. 35 EuErbVO der nationale ordre public Prüfungsgegenstand ist, ist aber damit zu rechnen, dass im Rahmen der EuErbVO an das ausländische Erbrecht jedenfalls kein strengerer Maßstab angelegt werden wird.
Rz. 43
Art. 2 eines französischen Gesetzes vom 14.7.1819 bestimmte, dass bei der Teilung des Nachlasses zwischen ausländischen und französischen Miterben die französischen Miterben von dem in Frankreich belegenen Nachlass bevorzugt einen Anteil erhalten, der dem Wert des im Ausland belegenen Vermögens entspricht, von dem sie – aus welchen Gründen auch immer – nach den örtlichen Gesetzen ausgeschlossen sind (droit de prélèvement, Vorwegnahmerecht). Diese Regelung wurde durch Urteil des französischen Conseil Constitutionnel (der in Frankreich vergleichsweise die Funktionen des BVerfG in Deutschland erfüllt) vom 5.8.2011 wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz in Art. 6 der Menschenrechtserklärung von 1789 für verfassungswidrig erklärt. Das droit de prélèvement war daher mit Wirkung ex tunc auch auf vor der Verkündung des Urteils eingetretene Erbfälle unanwendbar.
Rz. 44
Die französische Regierung hat nun versucht, durch eine neue Regelung dem französischen Pflichtteilsrecht zu einem international zwingenden Anwendungsbereich zu verhelfen, und am 24.8.2021 ein Gesetz verabschiedet, das am 1.11.2021 in Kraft trat. Art. 913 Abs. 3 c.c. bestimmt Folgendes:
Lorsque le défunt ou au moins l’un de ses enfants est, au moment du décès, ressortissant d’un Etat membre de l’Union européenne ou y réside habituellement et lorsque la loi étrangère applicable à la succession ne permet aucun mécanisme réservataire protecteur des enfants, chaque enfant ou ses héritiers ou ses ayants cause peuvent effectuer un prélèvement compensatoire sur les biens existants situés en France au jour du décès, de façon à être rétablis dans les droits réservataires que leur octroie la loi française, dans la limite de ceux-ci.“
In Deutsch etwa:
Falls der Erblasser oder zumindest eines seiner Kinder im Augenblick des Erbfalls die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates besitzen oder dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben und das auf die Erbfolge anwendbare ausländische Recht keine Pflichtteile zugunsten der Kinder vorsieht, so können jedes Kind oder seine Erben oder Rechtsnachfolger an dem am Todestag in Frankreich belegenen Vermögen zum Ausgleich ein Vorwegnahmerecht ausüben, soweit ihnen nach französischem Recht Pflichtteile zustehen.“
Rz. 45
Aus dieser Vorschrift ergibt sich ein Eingriff in den Anwendungsbereich des gem. Art. 20 ff. EuErbVO bestimmten Erbstatuts. Damit ist dieseRegelung womöglich wegen des Vorrangs der EuErbVO vor konkurrierenden Regelungen des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten unwirksam. Der Gesetzgeber ist offenbar der Auffassung, die Regelung setze sich gegen das nach der aufgrund der EuErbVO bestimmte Erbstatut als Konkretisierung des ordre public i.S.v. Art. 35 EuErbVO durch. Freilich ist dieses Argument m.E. sehr durchsichtig, denn die gesetzliche Pauschalisierung des ordre public-Vorbehalts geht an den Anforderungen des Art. 35 EuErbVO, der eine Einzelfallbetrachtung verlangt, weit vorbei. Hinzu kommt, dass der einzige Inlandsbezug darin bestehen muss, dass ein Teil des Nachlasses in Frankreich belegen ist, während im Übrigen genügt, dass der Pflichtteilskläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat der Union hat. Auch das dürfte auf eine exzessive Anwendung französischen Rec...