1. Rechtsnatur
Rz. 270
Im bis 2002 geltenden Erbrecht nach dem "alten" Burgerlijk Wetboek war der Pflichtteil echtes Noterbrecht. Besonderheit war, dass keine Herabsetzungsklage erhoben werden musste, sondern bereits die formlose Geltendmachung die Herabsetzung der pflichtteilsverletzenden Verfügungen herbeiführte. Der Pflichtteil nach neuem Erbrecht hingegen ist – wie im deutschen Recht – gem. Art. 4:80 B.W. ein auf Geldzahlung gerichteter Anspruch gegen den/die testamentarischen Erben.
Rz. 271
Lebzeitige Schenkungen des Erblassers sind dem Nachlass zur Berechnung der Pflichtteilsansprüche gem. Art. 4:67 B.W. hinzuzurechnen, wenn sie innerhalb von fünf Jahren vor dem Erbfall erfolgten. Keine zeitliche Beschränkung gilt für die Schenkung, wenn der Schenkungsempfänger pflichtteilsberechtigter Abkömmling ist. Dabei kann sich der Beschenkte dadurch unter die Fünf-Jahres-Grenze flüchten, dass er auf die Geltendmachung seiner Pflichtteilsrechte verzichtet. Ebenfalls von der Zurechnung ausgenommen sind Schenkungen, die nicht außergewöhnlich sind – also die üblichen Geschenke zu Weihnachten, zum Geburtstag und aus anderen Anlässen, Art. 4: 69 B.W.
Rz. 272
Die Pflichtteilsforderung wird sechs Monate nach dem Tod des Erblassers fällig. Der Anspruch ist innerhalb von fünf Jahren geltend zu machen bzw. innerhalb einer angemessenen, dem Pflichtteilsberechtigten gesetzten kürzeren Frist, Art. 4:85 B.W. Hat der Ehegatte sein "besonderes gesetzliches Erbrecht" erhalten, kann die Pflichtteilsforderung wie das gesetzliche Erbrecht des Kindes nicht vor Ableben oder Konkurs des überlebenden Ehegatten geltend gemacht werden. Auch der Anspruch des Ehegatten auf Bestellung eines Nießbrauchs aufgrund eines pflichtteilsähnlichen Rechts (siehe Rdn 277) geht dem Pflichtteil der Kinder vor.
2. Pflichtteile der Abkömmlinge
Rz. 273
Erb- und Pflichtteilsrechte im eigentlichen Sinne stehen allein den Kindern bzw. bei deren Vorversterben den weiteren Abkömmlingen zu, Art. 4:63 B.W. Die Höhe der Forderung entspricht der Hälfte des gesetzlichen Erbteils. Berechnungsgrundlage ist allerdings nicht der reale Nachlass, sondern ein fiktiver Nachlass, welcher durch die hinzurechnungspflichtigen Schenkungen ergänzt wird. Diese Pflichtteilsergänzung erfasst die Schenkungen des Erblassers an seine Kinder und sonstige Schenkungen, soweit sie innerhalb der letzten fünf Jahre vor dem Erbfall vorgenommen worden sind. Gleiches gilt für Schenkungen, bei denen sich der Erblasser den freien Widerruf oder den Nießbrauch an der geschenkten Sache vorbehalten hat, Art. 4.67 B.W. Ehegattenschenkungen bleiben außer Betracht, wenn die Eheleute in Gütergemeinschaft gelebt haben. Ein pflichtteilsberechtigter Abkömmling hat sich auf den Pflichtteil alles anrechnen zu lassen, was er bereits durch Schenkung oder aufgrund Erbfolge vom Erblasser empfangen hat.
Rz. 274
Das gesetzliche Erb- und Pflichtteilsrecht der Abkömmlinge wird durch das "besondere gesetzliche Erbrecht des überlebenden Ehegatten" weitgehend ausgehöhlt. Der Erblasser kann diese Begünstigung des Ehegatten noch ausweiten, indem er testamentarisch die Gestaltungsrechte der Kinder gegenüber dem überlebenden Ehegatten (siehe Rdn 265) einschränkt oder ganz ausschließt, die Verzinsung des Geldanspruchs ausschließt etc. Darüber hinaus kann der Erblasser seinen Ehegatten zum Erben einsetzen und anordnen, dass die Pflichtteilsansprüche der Kinder wie bei Eintritt des besonderen gesetzlichen Erbrechts der Ehegatten nicht vor Ableben des überlebenden Ehegatten fällig werden.
Rz. 275
Diese schwache Position wird durch "pflichtteilsähnliche Rechte" der Kinder korrigiert. So kann ein Kind des Erblassers einen einmaligen Geldbetrag beanspruchen, soweit dieser für den Unterhalt erforderlich ist und das Kind noch nicht das Alter von 21 Jahren erreicht hat, Art. 4:35 B.W. Dies gilt allerdings dann nicht mehr, wenn und soweit der überlebende Ehegatte oder ein anderer Erbe kraft Gesetzes für diesen Unterhalt aufkommen muss.
Des Weiteren haben Kinder, Stiefkinder oder Pflegekinder des Erblassers, die in dessen Haushalt oder Betrieb mehrere Jahre ohne angemessene Entlohnung gearbeitet haben, im Erbfall Anspruch auf eine billige Vergütung, Art. 4:36 B.W.
Rz. 276
Ein Pflichtteilsverzicht ist nicht vorgesehen. Auch die Pflichtteilsentziehung ist dem niederländischen Recht nicht bekannt. Der Abkömmling verliert sein Pflichtteilsrecht also erst dann, wenn ein Fall der Erbunwürdigkeit i.S.v. Art. 4:3 B.W. vorliegt.
3. Pflichtteilsähnliche Rechte des Ehegatten
Rz. 277
Der Ehegatte hat keine Pflichtteilsrechte im eigentlichen Sinn. Da das "besondere gesetzliche Erbrecht des überlebenden Ehegatten" insgesamt dispositiv ist, bildet auch dieses keine Sicherheit für den überlebenden Ehegatten. Er bleibt auf diese Weise grundsätzlich auf die Rec...