1. Pflichtteilsberechtigung
Rz. 297
Das österreichische materielle Erbrecht ist durch das Erbrechtsänderungsgesetz 2015 mit Wirkung vom 1.1.2017 an wesentlich geändert worden. Im österreichischen Recht erwirbt der Pflichtteilsberechtigte wie im deutschen Recht seit jeher eine Geldforderung gegen den Nachlass. Pflichtteilsberechtigt sind gem. § 757 ABGB der Ehegatte und die Abkömmlinge; fehlen Abkömmlinge, sind seit der Reform 2015 die Vorfahren nicht mehr pflichtteilsberechtigt, auch wenn sie zur gesetzlichen Erbfolge berufen wären. Dem Ehegatten steht seit dem 1.1.2010 der Partner aus einer gleichgeschlechtlichen eingetragenen Lebenspartnerschaft pflichtteilsrechtlich gleich.
Rz. 298
Die Pflichtteilsquote beläuft sich für Abkömmlinge und den Ehegatten bzw. den "Lebenspartner" auf die Hälfte des gesetzlichen Erbteils, § 759 ABGB.
Rz. 299
Der Ehegatte oder der "Lebenspartner" erhält sein gesetzliches Vorausvermächtnis gem. § 745 ABGB auch als Pflichtteil. Der Voraus ist insoweit testamentarisch nicht entziehbar und hat daher Pflichtteilscharakter. Der Ehegatte muss ihn sich aber auf den Pflichtteil anrechnen lassen, § 789 ABGB. In Fällen, in denen der Hausrat, also Wohnungseinrichtung und Kfz, den wesentlichen Teil des Nachlasses ausmacht, kann der überlebende Ehegatte durch diese Regelung faktisch Alleinerbe werden.
Rz. 300
Hinzu kommt ein Unterhaltsanspruch des Ehegatten gegen die Erben gem. § 747 ABGB. Das gilt gem. § 777 ABGB auch im Fall der Erbunwürdigkeit. Die Höhe des Unterhalts orientiert sich an der Regelung des Unterhalts unter Ehegatten in § 94 ABGB, dient also den "angemessenen Bedürfnissen des überlebenden Ehegatten". Was der Ehegatte aus dem Nachlass, aus einer Rente, aus eigenem Vermögen und Einkünften erhält, ist auf diesen Anspruch anzurechnen. Der Anspruch ist nach oben auf den Wert des Nachlasses begrenzt. Mittlerweise höchstrichterlich geklärt ist das Rangverhältnis des Unterhaltsanspruchs zu den Pflichtteilen der Angehörigen. Die Rechtsprechung und Literatur gehen vom Vorrang der Pflichtteile vor den Unterhaltsansprüchen der Verwandten aus.
Die kollisionsrechtliche Behandlung des Unterhaltsanspruchs aus deutscher Sicht ist nicht abschließend geklärt. Da es sich um eine originär mit dem Erbgang in der Person der Erben entstehende Verpflichtung handelt, spricht vieles gegen eine unterhaltsrechtliche und für eine erbrechtliche Qualifikation (siehe § 17 Rdn 220).
Rz. 301
Ein vergleichbarer Unterhaltsanspruch steht gem. § 233 ABGB einem Abkömmling des Erblassers zu. Auf den Anspruch des Kindes ist alles anzurechnen, was das Kind nach dem Verstorbenen durch eine vertragliche oder letztwillige Zuwendung, als gesetzlichen Erbteil, als Pflichtteil oder durch eine öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Leistung erhält. Reicht der Wert der Verlassenschaft nicht aus, um dem Kind den geschuldeten Unterhalt bis zum voraussichtlichen Eintritt der Selbsterhaltungsfähigkeit zu sichern, so mindert sich der Anspruch des Kindes entsprechend.
Rz. 302
Der Pflichtteil muss dem Noterben seit der Erbrechtsreform 2015 gem. § 762 ABGB nicht mehr frei bleiben, sondern kann jetzt auch belastet werden, z.B. mit einer Nacherbschaft. Daher kann der Pflichtteilsberechtigte seinen Pflichtteil auch dann nicht mehr verlangen, wenn er zum Nacherben eingesetzt worden ist, wenn sein Erbteil mit der Testamentsvollstreckung belastet ist oder er seinen Pflichtteil in Form einer vermächtnisweisen Zuwendung eines Anteils an einer Personengesellschaft erhält, der vinkuliert ist. Der durch die Belastung entstehende Nachteil ist freilich bei der Bewertung seines Erwerbs zu berücksichtigen. Nur so weit, wie der Pflichtteil durch die Zuwendung nicht gedeckt ist, kann der Pflichtteilsberechtigte seinen Pflichtteil dann noch in Form des "Geldpflichtteils" verlangen, § 763 ABGB.
Rz. 303
Der Berechnung ist der Netto-Nachlasswert, vermindert um Nachlassschulden, Todesfallschulden, Kosten der Nachlassverwaltung etc., zugrunde zu legen. Vermächtnisverbindlichkeiten und Erbschaftsteuer können nicht abgezogen werden, Schenkungen auf den Todesfall sind einzubeziehen. Es gilt der Verkehrswert, auch bei Grundstücken. Ausgenommen sind die Erbhöfe. Für die Bewertung landwirtschaftlicher Grundstücke hat die Rechtsprechung zudem eine Begünstigung des Erben eingeführt: Zwar ist grundsätzlich vom Ertragswert auszugehen. Als Pflichtteil sei aber nur so viel zu zahlen, dass der testamentarische Erbe in der Lage bleibt, die Ansprüche ohne große wirtschaftliche Nachteile zu erfüllen. Die Lebensfähigkeit des Hofs (Wohl-Bestehen-Können) dürfe nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Effektiv führt das zu einer wirtschaftlichen Begünstigung des Hofübernehmers zum Nachteil der übrigen Erben, auch der Pflichtteilsberechtigten.