1. Reform und weitere Reform
Rz. 397
Der Pflichtteil ist die den Pflichtteilsberechtigten vorbehaltene quotale Beteiligung am Vermögen des Erblassers, die der Verfügung des Erblassers entzogen ist (Noterbrecht). Diese Beteiligung muss den Pflichtteilsberechtigten ungemindert, unbelastet und unbedingt zukommen. Die Belastung mit Nacherbfolge oder lebenslanger Erbschaftsverwaltung ist also unzulässig. Umstritten aber ist, ob der Erblasser dem Berechtigten den Pflichtteil als Erbenstellung zukommen lassen muss oder er ihn auch mit Zuwendungen unter Lebenden oder Vermächtnissen abfinden kann.
Rz. 398
Die vom Schweizer Parlament am 18.12.2020 verabschiedete (erste Stufe) der Reform des Pflichtteilsrechts ist am 1.1.2023 in Kraft getreten. Damit wurde der Kreis der Pflichtteilsberechtigten um die Aszendenten vermindert, so dass nur noch die Nachkommen, der Ehegatte und der überlebende Partner aus einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft ein Pflichtteilsrecht haben. Der Pflichtteil der Abkömmlinge wurde auf die Hälfte des gesetzlichen Erbteils gekürzt. Die von Ingeborg Schwenzer vorgeschlagene Schaffung eines gesetzlichen Erb- und Pflichtteilsrechts auch für den nichtehelichen Lebensgefährten wurde dagegen nicht umgesetzt. Freilich wird eine Begünstigung des Lebensgefährten durch die Erweiterung der Testiermöglichkeiten, insbesondere die Abschaffung des Elternpflichtteils, erleichtert.
Rz. 399
Eine weitere Flexibilisierung des Pflichtteilsrechts wird nun insbesondere zur Erleichterung der Unternehmensnachfolge und zur Verbesserung der Situation des überlebenden Ehegatten bzw. Partners einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft angestrebt. Die entsprechende Gesetzesrevision wurde im April 2019 in die Vernehmlassung geschickt.
Rz. 400
Die Pflichtteilsberechtigung beläuft sich gem. Art. 471 ZGB für die Abkömmlinge (bis zum 1.1.2023: auf drei Viertel) und den Ehegatten bzw. den überlebenden Eingetragenen Partner auf jeweils die Hälfte ihres gesetzlichen Erbteils. In einzelnen kantonalen Rechten bestehende Pflichtteile der Geschwister sind mit Wirkung vom 1.1.1988 abgeschafft worden. Unter Berücksichtigung der Erbquoten in den einzelnen Konstellationen ergeben sich dabei folgende Quoten:
Kinder |
Eltern |
Ehegatte/Partner |
Pflichtteil |
Freiteil |
1 |
/ |
– |
alleiniges Kind ½ |
½ |
2 |
/ |
– |
beide Kinder je ¼ |
½ |
3 |
/ |
– |
jedes Kind 1/6 |
½ |
1 |
/ |
x |
Kind ¼ Ehegatte¼ |
½ |
2 |
/ |
x |
beide Kinder je ⅛ Ehegatte ¼ |
½ |
3 |
/ |
x |
jedes Kind 1/12 Ehegatte ¼ |
½ |
– |
– |
x |
Ehegatte ½ |
½ |
– |
x |
x |
Ehegatte ⅜ Eltern je 0 |
⅝ |
– |
x |
– |
Eltern je 0 |
1/1 |
Rz. 401
Der überlebende Ehegatte bzw. der überlebende Eingetragene Partner verliert seinen Pflichtteilsanspruch, wenn beim Tod des Erblassers ein Scheidungsverfahren bzw. ein Verfahren zur Auflösung der Eingetragenen Partnerschaft anhängig ist, das auf gemeinsames Begehren eingeleitet oder fortgesetzt wurde oder auf Klage hin mehr als zwei Jahre vor dem Tod des Erblassers eingeleitet wurde.
Rz. 402
Auch der nichteheliche und nicht verpartnerte Lebensgefährte erhält einen Anspruch. Das Gericht kann anordnen, dass einer Person zu Lasten der Erbschaft ein Unterhaltsvermächtnis ausgerichtet wird, um ihr damit einen angemessenen Lebensunterhalt zu ermöglichen, wenn
▪ |
sie mit dem Erblasser seit mindestens drei Jahren eine faktische Lebensgemeinschaft geführt hat und |
▪ |
erhebliche Leistungen im Interesse des Erblassers erbracht hat oder |
▪ |
während ihrer Minderjährigkeit mindestens fünf Jahre mit dem Erblasser in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hat und |
▪ |
vom Erblasser finanzielle Unterstützung erhalten hat, die dieser fortgesetzt hätte, wenn er nicht verstorben wäre. |
Rz. 403
Eine Erweiterung der verfügbaren Quote für Verfügungen zugunsten des überlebenden Ehegatten enthält Art. 473 ZGB. Ihm kann anstelle des gesetzlichen Erbrechts der Nießbrauch (Nutznießung) am gesamten Nachlass vermacht werden, allerdings nur zu Lasten der gemeinsamen Nachkommen. Bei Wiederverheiratung des Ehegatten aber können alle Erben verlangen, dass der Nießbrauch so weit reduziert wird, dass der Wert ihres Erbteils auch unter Berücksichtigung der sich aus dem Nießbrauch ergebenden Belastung (also bei Zugrundelegung seines kapitalisierten Wertes) zumindest ihren Pflichtteil erreicht, Art. 473 Abs. 3 ZGB.
Rz. 404
Zugleich mit diesem Nießbrauch kann der Erblasser dem Ehegatten die "daneben verfügbare Quote" zuweisen, welche in Art. 473 Abs. 2 S. 2 ZGB durch das Reformgesetz für den Zeitraum ab dem 1.1.2023 von einem Viertel auf die Hälfte erhöht wurde. Erheblich weiter gehende Möglichkeiten zur Begünstigung des überlebenden Ehegatten ergeben sich auf der güterrechtlichen Ebene (siehe Rdn 410).
Rz. 405
Die Pflichtteilsentziehung (Enterbung) ist bei Verbrechen gegen nahe stehende Personen zulässig oder bei schweren Verletzungen familiärer Pflichten (Art. 477 ZGB), z.B. wenn die Tochter den Schwiegersohn und die Enkelkinder mit ihrem Geliebten verlassen hat. Eine Pflichtteilsentziehung in guter Absicht ist gem. Art. 480 ZGB möglich, wenn der Erbe überschuldet ist und gegen ihn – zum Zeitpu...