Rz. 213
Unter einer Obliegenheit versteht man Verhaltenspflichten des Versicherungsnehmers, die er einhalten muss, um seinen Anspruch aus dem Versicherungsvertrag nicht zu verlieren. Sie unterscheiden sich von Leistungspflichten dadurch, dass sie nicht einklagbar sind. Die DTV-VHV 2003/2011 unterscheiden – wie das VVG – zwischen Obliegenheiten vor Eintritt des Versicherungsfalls und solchen nach Eintritt des Versicherungsfalls.
Rz. 214
Was unter einem Versicherungsfall zu verstehen ist und welcher Vorgang ihn auslöst, lässt das VVG offen. Die DTV-VHV 2003/2011 unterscheiden zwischen "Schadenfall" (Ziff. 8.1 DTV-VHV 2003/2011) und "Schadenereignis" (Ziff. 8.2 DTV-VHV 2003/2011). Sowohl der Schadenfall als auch das Schadenereignis sind Synonyme für den Versicherungsfall. Schadenfall ist der durch ein Schadenereignis ausgelöste Haftpflichtanspruch eines Auftraggebers und/oder Empfängers aus einem Verkehrsvertrag. Das Schadenereignis meint den äußeren Vorgang, der den Schaden verursacht. Durch ein und denselben äußeren Vorgang können mehrere Auftraggeber und Verkehrsverträge betroffen sein und damit mehrere Schadenfälle vorliegen. Werden bei einem Brand auf einem Sammellager Güter verschiedener Absender vernichtet, liegt nur ein Schadenereignis vor, aber mehrere Schadenfälle. Liegen umgekehrt zwei äußere Ereignisse bei einem Verkehrsvertrag vor (z.B. Diebstahl aus einem Lager sowie Wassereinbruch im Lager), haben wir es ebenfalls mit zwei Schadenfällen zu tun. Denn hier ist zwar bloß ein Verkehrsvertrag betroffen, aber in zwei durch verschiedene Schadenereignisse hervorgerufenen Fällen.
a) Allgemeines
aa) Konkurrenz von vorbeugender Obliegenheit und vorsätzlicher Herbeiführung des Versicherungsfalls sowie der Vorschriften über die Gefahrerhöhung
Rz. 215
Verletzt der Versicherungsnehmer oder einer seiner Repräsentanten eine vorbeugende Obliegenheit vorsätzlich oder grob fahrlässig, so ist der Versicherer gemäß Ziff. 7.3 DTV-VHV 2003/2011 leistungsfrei. Bei den in Ziff. 7.1 DTV-VHV 2003/2011 aufgeführten Obliegenheiten ist es die Regel, dass die Tatbestände einer Obliegenheitsverletzung, einer Gefahrerhöhung sowie einer Herbeiführung des Versicherungsfalls nebeneinander erfüllt sind. Problematisch ist das Nebeneinander von vorbeugender Obliegenheitsverletzung und Herbeiführung des Versicherungsfalls wegen der unterschiedlichen Verschuldensgrade. Der Versicherungsnehmer darf den Schaden grob fahrlässig herbeiführen, da ihm nach Ziff. 6.20 DTV-VHV 2003/2011 (§ 103 VVG) nur Vorsatz schadet, nicht aber in Form der Verletzung einer vorbeugenden Obliegenheit, z.B. durch fehlende Schnittstellenkontrollen. In diesem Fall kann sich der Versicherer auf Leistungsfreiheit berufen.
bb) Grobes Organisationsverschulden
Rz. 216
Die Obliegenheiten vor Eintritt des Versicherungsfalls betreffen überwiegend Tatbestände, die aus der Rechtsprechung zum groben Organisationsverschulden bekannt sind und über Ziff. 27 ADSp zur unbegrenzten Haftung des Spediteurs oder über § 435 HGB bzw. Art. 29 CMR zur unbegrenzten Haftung des Frachtführers führen. Beispiele hierfür sind die Ziff. 7.1.1, 7.1.2, 7.1.3, 7.1.4, 7.1.6, 7.1.7 und insbesondere 7.1.8 DTV-VHV 2003/2011, wonach Schnittstellenkontrollen durchzuführen und zu dokumentieren sind. Von grobem Organisationsverschulden wird gesprochen, wenn naheliegende organisatorische Schutzmaßnahmen nicht getroffen werden. Das betrifft insbesondere unterbliebene Eingangs- und Ausgangskontrollen. Gleiches gilt bei der Lagerung hochwertiger Güter in ungeeignetem Lagerraum und bei nur unzulänglichen Kontrollen. Grob fahrlässiges Handeln liegt auch vor, wenn diebstahlgefährdetes Gut nach Verladung auf einem nicht verschlossenen und nur zeitweise bewachten Speditionsgelände abgestellt wird. So wurde für das Frachtrecht ein grob fahrlässiges Organisationsverschulden im Haftungs- und im Deckungsverhältnis bejaht, wenn bei einem Transport wertvoller Güter nach Italien nur ein Fahrer eingesetzt wurde, dem es aufgrund der vorgeschriebenen Fahrtroute unmöglich war, einen bewachten Parkplatz für die Ruhepause aufzusuchen. Von einer grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls wurde bei einem Transport in die GUS-Staaten ausgegangen, weil nur ein Fahrer zum Einsatz kam und – entgegen der Policenvereinbarung – keine Anweisung gegeben wurde, nur im Konvoi zu fahren und im Lkw zu übernachten.
Rz. 217
Besondere Bedeutung für das Deckungsverhältnis erhält die Rechtsprechung des BGH zur Darlegungs- und Beweislast im Rahmen der Frachtführerhaftung wegen qualifizierten Verschuldens. Bei ungeklärter Schadensursache wird dem Auftraggeber der ihm obliegende Beweis für das qualifizierte Verschulden des Frachtführers schwer fallen, da er noch weniger als der Frachtführer in Erfahrung bringen kann, wie der Transport im Einzelnen bis zum Schadenfall verlaufen ist. In diesen Fällen trifft den Frachtführer eine prozessuale Darlegungsobliegenheit: Der Frachtführer muss die Schadensursache zeitlich, örtlich und person...