Rz. 113
Freiberufliche Praxen werden traditionell stark durch den Inhaber geprägt. Daher hat die Rspr. für deren Bewertung im Gegensatz zur betriebswirtschaftlichen Theorie zunächst ein modifiziertes Umsatzverfahren gebilligt. Nach diesem Verfahren, dem die Bewertungskriterien der freiberuflichen Standesorganisationen zugrunde liegen, setzt sich der Wert einer freiberuflichen Praxis aus dem Substanzwert und dem Geschäfts- oder Praxiswert ("Goodwill") zusammen. Letzterer wiederum wird aus dem Umsatz in einem bestimmten Zeitabschnitt multipliziert mit einem individuell bestimmten Faktor abgeleitet.
Rz. 114
Der Sach- oder Substanzwert setzt sich zusammen aus dem reinen Substanzwert der Praxiseinrichtung (Einrichtungsgegenstände, Arbeitsgeräte, Warenvorräte und sonstige Hilfsmittel). Maßgeblich ist der Wiederbeschaffungswert der jeweiligen Gegenstände. Hinzuzuzählen sind Guthaben auf Bankkonten, abzuziehen sind Verbindlichkeiten. Zum Substanzwert zählen auch die noch offenen Honorarforderungen mit ihrem Nennwert und ohne Steuerkürzung.
Rz. 115
I.d.R. vergütet der Erwerber einer eingeführten Freiberuflerpraxis neben dem reinen Sachwert auch einen darüber hinausgehenden Geschäftswert. Ein solcher Goodwill setzt sich zusammen aus Ruf und Ansehen des Praxisinhabers, Standort, Art und Zusammensetzung der Kunden, Mitarbeiterstamm, Umsatzvolumen etc. Der Goodwill hat einen eigenen Marktwert. Die damit gegebene Nutzungsmöglichkeit der Freiberuflerpraxis bestimmt somit maßgeblich ihren Wert.
Der BGH sieht in dieser Nutzungsmöglichkeit den Wert zum Stichtag verkörpert und will diese von der Kapitalisierung zukünftiger Gewinne des Freiberuflers unterscheiden. Anknüpfend an die Ausführungen zum Einfluss des Doppelverwertungsverbots auf die Bewertung (Rdn 109 ff.) sind auch bei der Bemessung des Goodwills die subjektbezogenen Kriterien außer Betracht zu lassen, da diese im Unterhaltsrecht Beachtung finden. Wenn schon der Verkauf als zur Wertbemessung entscheidender Maßstab herangezogen wird, so ist zu beachten, dass die subjektbezogenen Kriterien des Goodwills nicht mitverkauft werden können.
Rz. 116
Für die Ermittlung des Goodwills greift die Rspr. auf Bewertungsregeln zurück, die die Standesorganisationen aufgestellt haben. Diese ermitteln den Wert der Freiberuflerpraxis i.d.R. nach der Umsatzmethode, wonach der Bruttoumsatz der letzten drei bis fünf Jahre festzustellen ist. Die jüngeren Erträge können stärker gewichtet werden als die älteren. Nicht maßgeblich sind hingegen der Gewinn und damit die Kostenstruktur. Daraus ist der durchschnittliche Jahresbruttoumsatz zu errechnen. Zur Berechnung des Goodwills ist dieser Jahreswert mit einem Berechnungsfaktor zu multiplizieren, den die Standesvertretungen i.d.R. mit einem Korridor angeben. Auf diesen Faktor wirken sich verschiedene Umstände aus.
Beispiele
Langer Praxisbetrieb, gemischte Kundschaft, Konkurrenzdichte, Lebensalter und Spezialisierung des ausscheidenden Freiberuflers.
Rz. 117
Ob tatsächlich ein Goodwill vorhanden ist, bedarf in jedem Einzelfall der Prüfung. Voraussetzung ist stets, dass es in nennenswertem Umfang einen Markt zur Veräußerung der Freiberuflerpraxis oder zur entgeltlichen Aufnahme eines weiteren Freiberuflers gibt. Ein Goodwill kann auch dann völlig fehlen, wenn die Praxis erst kürzlich eingerichtet wurde, es sich um eine der künstlerischen Tätigkeit verwandte Tätigkeit handelt oder die Prägung völlig durch das individuelle Können des Inhabers erfolgt. Gesondert zu prüfen ist, ob sich das Verbot, Mandantendaten zu übertragen, auf den Goodwill auswirkt, ob es also zu einem "Veräußerungsschwund" kommt.
Rz. 118
Nach diesen Wertfeststellungen ist der Unternehmerlohn abzuziehen. Nach der Rspr. des BGH wird nicht mehr ein fiktiver kalkulatorischer Unternehmerlohn abgezogen, sondern der individuelle konkrete Unternehmerlohn. Damit ist der Goodwill um die subjektive Komponente bereinigt. Der konkrete Unternehmerlohn, der abgezogen wurde, ist sodann die Basis für die Unterhaltsberechnung.
Rz. 119
Die Rspr. bringt von dem so ermittelten Wert die latenten Ertragsteuern in Abzug, und zwar nicht nur in den Fällen, in denen eine Veräußerung tatsächlich beabsichtigt ist, sondern generell als Konsequenz der Bewertungsmethode. Die Steuern seien wie unvermeidbare Veräußerungskosten anzusehen. Der BGH hat zwar früher den pauschalen Abzug des halben Steuersatzes auch angesichts der Abschaffung entsprechender Privilegierung gebilligt, ist aber inzwischen davon abgerückt. Er verlangt nunmehr den Abzug latenter Steuern für alle Vermögenswerte, nicht nur für das Betriebsvermögen, und stellt auf die individuelle Steuerfolge bei einer fiktiven Veräußerung zum Stichtag ab.