Rz. 53
§ 9 Abs. 1 AGG legitimiert eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung dann, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Betrachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt, wie z.B. in einem kirchlichen Arbeitsverhältnis. Ob die Religion oder Weltanschauung eine gerechtfertigte Anforderung darstellt oder nicht, ist unter Beachtung des Selbstverständnisses der Vereinigung zu bestimmen. Maßstab für die Beurteilung der Frage, ob es bei einer Tätigkeit entscheidend auf die Religion oder Weltanschauung ankommt, ist ebenfalls das Selbstverständnis der Vereinigung, nicht der Maßstab des entscheidenden Richters. Vom Wortsinn der Norm werden also u.a. Fälle erfasst, in denen die Art der Tätigkeit die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder Weltanschauung nicht erfordert, es genügt, wenn das Selbstbestimmungsrecht der Gemeinschaft oder Vereinigung eine bestimmte Religion oder Weltanschauung verlangt (Kamanabrou, RdA 2006, 321, 327 f.). Das Selbstbestimmungsrecht der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften umfasse grds. die Berechtigung, die Religion oder Weltanschauung als berufliche Anforderung für die bei ihnen Beschäftigten zu bestimmen (BT-Drucks 19/1780, 35; kürzlich hierzu: Vorlagebeschluss zur Unionsrechtskonformität einer unterschiedlichen Behandlung von Bewerbern wegen ihrer Konfession im Stellenbesetzungsverfahren eines kirchlichen Arbeitgebers, BAG v. 17.3.2016 – 8 AZR 501/14).
Rz. 54
§ 9 Abs. 2 AGG führt weiter aus, dass trotz des Verbotes unterschiedlicher Behandlungen wegen der Religion oder Weltanschauung die Vereinigungen von ihren Beschäftigten ein loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses verlangen dürfen. So mag z.B. eine Schule in kirchlicher Trägerschaft einen Hausmeister zwar nicht deshalb ablehnen dürfen, weil er Atheist ist. Sie darf von diesem Hausmeister jedoch verlangen, dass er den Schülern ggü. keine atheistischen Bemerkungen macht (Kamanabrou, RdA 2006, 321, 328).
Rz. 55
Beispiel
Ein Kindergarten unter Trägerschaft der katholischen Kirche verfolgt das bildungs- und erziehungspolitische Ziel, die Kinder i.S.d. christlichen Religion zu erziehen und zu betreuen. Eine muslimische Erzieherin bewirbt sich um eine Stelle und bekommt eine Absage, weil nur Erzieherinnen und Erzieher eingestellt werden, die katholisch sind. Hier ist die Benachteiligung wegen der Religion gerechtfertigt, da der Träger des Kindergartens Wert darauf legt, dass sein Personal der katholischen Kirche angehört.
§ 9 Abs. 2 AGG ist als Rechtfertigungsgrund verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass Kirchen Arbeitnehmer nicht nur wegen der Religion, sondern aufgrund jedes schwerwiegenden Loyalitätsverstoßes unterschiedlich behandeln dürfen. Darunter fällt auch das Eingehen einer eingetragenen Lebenspartnerschaft (ArbG Stuttgart v. 28.4.2010 –14 Ca 1585/09; MüKo-BGB/Thüsing, AGG, § 9 Rn 33).