Rz. 73

Art. 912 code civil definiert die Pflichtteile als die den Pflichtteilsberechtigten frei von Belastungen vorbehaltenen Güter und Rechte (réserve légale, Pflichtteilsrechte). Freilich gilt dies seit der Reform 2006 nur noch sehr eingeschränkt: Der Pflichtteilsberechtigte kann auch dann, wenn er durch Geltendmachung der Herabsetzungsklage seine dingliche Beteiligung am Nachlass erreicht hat, vom testamentarisch bzw. durch Schenkung Begünstigten nur einen Ausgleich in Geld verlangen.[74] Der Pflichtteil darf nicht mit der Testamentsvollstreckung (Art. 1030 c.c.) oder der Nacherbfolge (Art. 1054 c.c.) belastet werden. Der pflichtteilsberechtigte befreite Vorerbe kann auch über die ihm zugewandten Gegenstände durch Schenkung oder Testament ohne Beschränkung verfügen, Art. 1059 c.c.[75] Voraussetzung für die Entstehung des Pflichtteilsrechts ist, dass der Betroffene zur gesetzlichen Erbfolge berufen wäre und dass er die Erbschaft angenommen hat. Der verbleibende Teil des Vermögens stellt den verfügbaren Nachlass (quotité disponible) dar, über den der Erblasser durch Schenkungen unter Lebenden und Vermächtnisse verfügen kann, Art. 912 Abs. 2 c.c.

 

Rz. 74

Pflichtteilsberechtigt sind die Abkömmlinge des Erblassers. Sind keine Abkömmlinge vorhanden, kam nach altem Recht ein Pflichtteil der Aszendenten in Betracht. Der Pflichtteil der Aszendenten ist durch die Streichung von Art. 914 c.c. im Rahmen der Erbrechtsreform 2006 beseitigt worden. Sie können, wenn der Erblasser keine Abkömmlinge hinterlässt, gem. Art. 738–2 Abs. 1 c.c. allenfalls die von ihnen dem Erblasser geschenkten Güter zurückverlangen (droit de retour).

 

Rz. 75

Die Reform von 2001 verschaffte dem Ehegatten – und das gilt in gleicher Weise für den Partner einer in Frankreich seit 2013 möglich gleichgeschlechtlichen Ehe – erstmalig ein Pflichtteil schon einmal für den Fall, dass der Erblasser weder Abkömmlinge noch Aszendenten hinterlassen hatte – also keine pflichtteilsberechtigten Verwandten – und der Ehegatte gem. Art. 757–2 c.c. gesetzlicher Alleinerbe wäre. Die Reform von 2006 gab den Vorrang der Aszendenten auf. Gem. Art. 914–1 c.c. hat der Ehegatte also nun ein Pflichtteil i.H.v. einem Viertel des Nachlasses, wenn der Erblasser keine Abkömmlinge hinterlässt und die Ehe nicht geschieden ist. Die bislang bestehenden weiteren Bedingungen, dass der überlebende Ehegatte vom Erblasser nicht schuldig von Tisch und Bett getrennt worden und der überlebende Ehegatte keine Klage auf Trennung oder Scheidung erhoben hat, sind durch das Reformgesetz 2006 gestrichen worden.

 

Rz. 76

Im Fall der einverständlichen Trennung von Tisch und Bett können die Eheleute gem. Art. 301 c.c. auch auf die Rechte aus Art. 756–757–3 cc. und aus Art. 764–766 c.c. verzichten.

[74] Die Rechtsnatur des Pflichtteils ist wohl weiterhin nicht ganz geklärt. Auch wenn der Pflichtteilsberechtigte nur Zahlung von Geld verlangen kann, wird er aber doch wohl als echter Miterbe am Nachlass beteiligt – so Gresser, in: Röthel, Reformfragen des Pflichtteilsrechts, 2007, S. 228; Merkle, Pflichtteilsverzicht, S. 108. Kritisch hierzu erste Stellungnahmen in der französischen Literatur. Grimaldi sieht hierin eine "Monetarisierung" des Pflichtteils. Die mit der Beteiligung am Familienvermögen wie Sachen, Häusern, Bildern oder Unternehmen verbundene menschliche Dimension des Noterbrechts werde aufgegeben, indem der Noterbe nur noch einen Scheck erhalte (Grimaldi, Présentation de la loi du 23 juin 2006 portant réforme des successions et des libéralités, Recueil Dalloz 2006, 2551, 2554).
[75] Zu den Verzichtsmöglichkeiten siehe Rdn 87.

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