I. Systematik der Nachlassbewertung
1. Allgemeines
Rz. 113
Der Pflichtteilsanspruch besteht gem. § 2303 BGB in der Hälfte des Werts des gesetzlichen Erbteils. Die betragsmäßige Höhe des Pflichtteilsanspruchs hängt daher von zwei Faktoren ab: von der Erb- bzw. Pflichtteilsquote und von dem Wert des Nachlasses. Art und Weise der Ermittlung des Nachlasswerts sind in §§ 2311–2313 BGB geregelt. Dabei ist logischerweise in zwei Schritten vorzugehen: Zunächst muss der Bestand des Nachlasses definiert bzw. festgestellt werden. Alle zum Nachlass gehörenden Aktiva und Passiva sind zu ermitteln und sodann in einer Art Nachlassbilanz anzusetzen. Im zweiten Schritt schließt sich die Bewertung der angesetzten Vermögensgegenstände an. Der Nettowert des Nachlasses (buchhalterisch vergleichbar mit dem Eigenkapital in der Bilanz) ergibt sich als Differenz aus Aktiva und Passiva.
2. Stichtagsprinzip
Rz. 114
Nach § 2311 Abs. 1 S. 1 BGB ist der für die Bewertung maßgebliche Zeitpunkt (Stichtag) der Tod des Erblassers. Wertveränderungen nach dem Stichtag sind im Rahmen der Nachlassbewertung nicht zu berücksichtigten; sie dürfen sich auf die Höhe des Pflichtteilsanspruchs nicht auswirken. Das Stichtagsprinzip bedeutet indes nicht, dass zukünftige Entwicklungen völlig außer Acht zu lassen sind. Vielmehr sind wertbeeinflussende Faktoren, die am Stichtag bereits im Keim angelegt waren, sich jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt manifestieren, auf jeden Fall zu berücksichtigen (Wurzeltheorie). Das Stichtagsprinzip bezieht sich demnach nicht auf den Wert des jeweiligen Nachlassgegenstands als solchen, sondern vielmehr auf die für die Bewertung maßgeblichen Faktoren, die zwingend aus der Sicht des Stichtags zu ermitteln sind.
II. Umfang des anzusetzenden Nachlasses
1. Grundsätze
Rz. 115
Alle Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten, die durch den Erbfall im Wege der Gesamtrechtsnachfolge gem. § 1922 BGB auf den bzw. die Erben übergegangen sind, sind in die Nachlassbewertung einzubeziehen. Forderungen und Verbindlichkeiten des Erblassers, die infolge des Erbfalls durch Konfusion bzw. Konsolidation erloschen sind, gelten für Zwecke der Pflichtteilsberechnung als nicht erloschen. Zum Vermögen zählen auf jeden Fall alle Gegenstände, die dem Erblasser gehörten, daneben aber auch sämtliche vermögensrechtlichen Positionen oder Beziehungen, die der Erblasser noch vor seinem Tod eingeleitet hat, die sich aber erst zu einem späteren Zeitpunkt in endgültigen Rechtswirkungen manifestieren.
Rz. 116
Schulden, Lasten und Verpflichtungen sind nur insoweit zu berücksichtigen, wie sie auch beim Eintritt der gesetzlichen Erbfolge bestehen würden. Daher sind all diejenigen Verpflichtungen, die aus einer testamentarischen Verfügung des Erblassers herrühren, auszuklammern. Anzusetzen sind aber die Nachlassverbindlichkeiten, die im Zeitpunkt des Erbfalls bereits entstanden (mit Ausnahme der persönlichkeitsbezogenen Pflichten, die nicht vererblich sind) oder wenigstens schon im Keim angelegt waren und die sich nun gegen den Nachlass richten. Dies sind sowohl die Erblasser- als auch die Erbfallschulden.
Rz. 117
Da § 2303 Abs. 1 S. 2 BGB den Pflichtteil als die Hälfte des Werts des gesetzlichen Erbteils definiert, muss für die Bestandsaufnahme unterstellt werden, dass der Pflichtteilsberechtigte im Wege der gesetzlichen Erbfolge selbst Erbe geworden wäre. Alle Verpflichtungen, die ihn bei dieser hypothetischen Betrachtung treffen würden, sind auch bei der Berechnung des Pflichtteils mit zu berücksichtigen.