Rz. 175
Das die Wertermittlung im Pflichtteilsrecht prägende Stichtagsprinzip stößt an seine Grenzen, wenn die Realisierbarkeit oder auch der rechtliche Bestand bestimmter Vermögensgegenstände zum Stichtag nicht sicher ermittelt werden kann. Eine Schätzung unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, die für oder gegen die Realisierbarkeit des Werts sprechen, bzw. die Vornahme von Sicherheitsabschlägen würden hier auf jeden Fall zu unbefriedigenden Ergebnissen führen. Vor diesem Hintergrund hat sich der Gesetzgeber für die Möglichkeit des Ansatzes "vorläufiger Werte" entschieden. Nach § 2313 BGB wird der Wert jedes Vermögensgegenstands bzw. Schuldpostens so ermittelt, als ob es keinerlei Unsicherheiten hinsichtlich seines Bestands oder seiner Realisierbarkeit gäbe. Für den Fall, dass sich diese Unterstellung im Nachhinein als unzutreffend erweist, besteht aber die Möglichkeit der Korrektur. Somit stellt § 2313 BGB zwar eine Durchbrechung des Stichtagsprinzips hinsichtlich der Bestimmung des Nachlassbestands, nicht aber hinsichtlich der Bewertung als solcher dar.
Rz. 176
In dem Anwendungsbereich des § 2313 BGB fallen Vermögensgegenstände aller Art sowie Verbindlichkeiten und dingliche Belastungen. Besteht lediglich eine Befristung (ohne dass im Übrigen eine Unsicherheit vorliegt), ist § 2313 BGB aber nicht anzuwenden, hier wird der Wert vielmehr nach § 2311 BGB ermittelt wird. Das gilt auch, wenn sich die Unsicherheit lediglich auf die Bewertung als solche, nicht aber auf den tatsächlichen oder rechtlichen Bestand eines Vermögensgegenstands oder einer Verbindlichkeit bezieht.
Rz. 177
Für die Frage, ob ein Vermögensgegenstand oder eine Verbindlichkeit als unsicher, ungewiss, bedingt oder zweifelhaft anzusehen ist, kommt es allein auf die juristisch sachgerechte Beurteilung eines objektiven Dritten an. Die subjektive Ansicht des Erben ist irrelevant.
Rz. 178
Außer Ansatz bleiben aufschiebend bedingte Rechte und Verbindlichkeiten. Als aufschiebende Bedingung gilt hier sowohl die rechtsgeschäftliche als auch die echte Rechtsbedingung, vor deren Eintritt es an der Verwirklichung eines zur Entstehung des Rechts/der Verbindlichkeit erforderlichen Tatbestandsmerkmals fehlt. Der Grad der Wahrscheinlichkeit des Bedingungseintritts spielt für die Anwendung von § 2313 BGB keine Rolle. Nicht angesetzt werden auch ungewisse oder unsichere Rechte. Eine Ungewissheit ist anzunehmen, wenn der Bestand des Rechts oder die Person des Berechtigten zweifelhaft ist. Eine Unsicherheit liegt vor, wenn die tatsächliche oder wirtschaftliche Verwertbarkeit zweifelhaft ist. Schwebend unwirksame und anfechtbare Rechte gelten grundsätzlich als unsicher, ebenso Forderungen gegen zahlungsunfähige Schuldner, insbesondere, wenn bereits die eidesstattliche Versicherung abgegeben wurde oder bereits eine fruchtlose Vollstreckung stattgefunden hat. Etwas anderes gilt aber bei Forderungen gegen am Nachlass beteiligte Miterben, wenn die Forderungen durch den jeweiligen Nachlassanteil gedeckt werden können. Unsicher ist auch ein dem Erblasser zustehendes Nacherbenanwartschaftsrecht.
Rz. 179
Soweit bzw. solange die Inanspruchnahme noch zweifelhaft ist, sind auch Garantieversprechen, Bürgschaftsverpflichtungen, Verpfändungen oder für fremde Schulden bestellte Grundpfandrechte als unsicher anzusehen. Folgerichtig können die in diesem Zusammenhang evtl. bestehenden Ausgleichsansprüche ebenfalls nicht berücksichtigt werden. Nachlassverbindlichkeiten, die der Erbe bestritten hat, sind zweifelhaft und zwar selbst dann, wenn der Gläubiger Klage erhoben oder sogar ein rechtskräftiges Urteil erstritten hat, gegen das sich der Erbe mit Rechtsmitteln zur Wehr setzt.
Rz. 180
Auflösend bedingte Rechte und Verbindlichkeiten werden bei der Bewertung so berücksichtigt, als ob die Bedingung nicht bestünde. Befristete oder betagte Forderungen und Verbindlichkeiten fallen von vornherein nicht in den Anwendungsbereich von § 2313 BGB; vielmehr ist ihr Wert gem. § 2311 BGB zu schätzen. Keinen Fall des § 2313 BGB bildet auch die Konstellation, dass der Erblasser einen Gegenstand unter Eigentumsvorbehalt erworben hat. Hier fällt das Anwartschaftsrecht in den Nachlass und wird gem. § 2311 Abs. 2 BGB geschätzt. Auch latente Steuern, die im Fall einer späteren Veräußerung bestimmter Vermögensgegenstände (insbesondere Betriebsvermögen) in der Person des Erben entstehen können, sind nicht als aufschiebend bedingte Verbindlichkeiten anzusehen und fallen daher nicht unter § 2313 BGB.
Rz. 181
Verändert sich die Rechtslage dahin gehend, dass die aufschiebende oder auflösende Bedingung eintritt, Ungewissheiten, Unsicherheiten oder Zweifel also wegfallen, hat eine nachträgliche Angleichung zu erfolgen. Dabei kann es sowohl zu einer Pflichtteilserhöhung als auch zu einer entsprechenden Minderung kommen. Der Pflichtteilsberechtigte ist im Ergebnis so zu stellen, als ob ...