I. Fehlende Erinnerung
Rz. 61
Grundsätzlich sind frühere Angaben eines Zeugen nur insoweit verwertbar, als er sie - gegebenenfalls auf Vorhalt - in der Hauptverhandlung wiederholt.
Schriftliche Angaben eines Polizeizeugen sollen dagegen selbst dann verwertbar sein, wenn er sich nicht mehr an Einzelheiten erinnert, sondern lediglich die volle Verantwortung für die von ihm gemachte Anzeige übernimmt (BGHSt 23, 213; 23, 265). So soll z.B. eine Verwertung selbst dann infrage kommen, wenn der polizeiliche Zeuge, der einen Rotlichtverstoß festgestellt haben will, sich bei seiner Vernehmung nicht mehr an die Tat erinnern, sondern sie lediglich anhand eines unmittelbar nach der Tat aufgenommenen Protokolls rekonstruieren kann (BayObLG DAR 2002, 520).
Rz. 62
Diese Rechtsprechung ist äußerst bedenklich. Der Wert einer Zeugenaussage zeigt sich immer erst in der Hauptverhandlung und erst dann, wenn die Verfahrensbeteiligten Gelegenheit zu Fragen und Vorhalten hatten. Im Hinblick auf diese Rechtsprechung kann ein Polizeizeuge praktisch dadurch alle kritischen Fragen abblocken, dass er sich auf fehlende Erinnerung beruft, im Übrigen aber die volle Verantwortung für die Richtigkeit seines schriftlichen Vermerks übernimmt.
Das OLG Düsseldorf (DAR 1999, 274) lässt deshalb die bloße Erklärung des Beamten nicht ausreichen, sondern verlangt, dass der Richter klärt, in welcher Weise der Zeuge an der Anzeigenerstattung beteiligt war, ob ein Irrtum ausgeschlossen ist und warum es verständlich sein soll, dass er sich nicht mehr erinnert.
II. Schätzung
Rz. 63
Schätzungen von Polizeibeamten zu Geschwindigkeitsüberschreitungen, Rotlichtzeiten oder Abständen sind in der Regel auch dann nicht verwertbar, wenn der Beamte in der Verkehrsüberwachung erfahren ist (BayObLG DAR 2001, 38; KG NZV 2002, 50; OLG Köln NZV 2004, 651).
Rz. 64
Anderes mag gelten, wenn es sich um sehr viel längere Rotlichtzeiten gehandelt hat oder der Beamte gezielt zur Überwachung der Ampelanlage eingesetzt worden war (OLG Brandenburg DAR 1999, 512). Aber auch in diesen Fällen müssen die nach der allgemeinen Erfahrung in Betracht kommenden Fehlerquellen im Einzelfall ausreichend berücksichtigt werden (OLG Düsseldorf DAR 1997, 322) und es bedarf im Urteil einer wertenden Auseinandersetzung mit Grundlage und Beweiswert dieser Schätzung (OLG Köln zfs 2012, 292).
Rz. 65
Ebenso wenig kann i.d.R. eine Abstandsunterschreitung bzw. eine Geschwindigkeitsüberschreitung mit einer Schätzung nachgewiesen werden (OLG Düsseldorf NZV 1993, 242; BayObLG DAR 2001, 37; OLG Karlsruhe NZV 2008, 586; siehe auch § 20 Rdn 16; § 22 Rdn 26; § 23 Rdn 35 ff.).
III. Ablehnung von Beweisanträgen
Rz. 66
Nach der Vernehmung eines Polizeibeamten kann u.U. ein Beweisantrag auf Vernehmung weiterer Polizeizeugen, die mit ihm gemeinsam den Verkehrsvorgang beobachtet haben, abgelehnt werden (OLG Hamm NJW 1984, 462).
IV. Auseinandersetzung mit der Aussage
Rz. 67
Allein der Hinweis, es handele sich um einen besonders zuverlässigen Zeugen, stellt auch dann, wenn es sich um einen Polizeibeamten handelt, keine ausreichende Auseinandersetzung mit dessen Aussage dar (OLG Stuttgart VRS 119, 235).