Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 331
Stets ist zu prüfen gemäß Art. 8 Abs. 1 S. 2 Rom I-VO, ob sich das Arbeitsverhältnis jedenfalls auch nach zwingenden Rechtsvorschriften anderer Staaten zu richten hat, deren Recht gemäß Art. 8 Abs. 2–4 Rom I-VO anzuwenden wäre, wenn die Parteien keine Rechtswahl getroffen hätten. Diese Kontrollüberlegung sollte aus Arbeitgebersicht immer angestellt werden. Die Wirkung der Rechtswahl wird durch die zwingenden Schutznormen der objektiv geltenden Rechtsordnung begrenzt, also jener Rechtsordnung, die in Ermangelung einer Rechtswahl gilt.
Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO stellt auf das Prinzip des lex loci laboris, also auf das Recht des gewöhnlichen Beschäftigungsorts, ab. Dieser bezeichnet nach aktuellem Verständnis den Ort, an dem die Arbeitsleistung erbracht wird, nicht also den Serverstandort oder Betrieb, in den der mobil arbeitende Arbeitnehmer eingegliedert ist. Erbringt der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung an unterschiedlichen Standorten, z.B. teilweise aus dem ausländischen Home-Office oder in Form mobiler Arbeit an unterschiedlichen Orten im Ausland und teilweise im inländischen Betrieb, ist der Mittelpunkt der Tätigkeit im Einzelfall zu bestimmen. Ein vorübergehender Wechsel des Arbeitsorts etwa im Rahmen einer "Workation" oder einer vorübergehenden Verlagerung der Tätigkeit in ein im Ausland gelegenes Homeoffice ändern das anzuwendende Recht gemäß Art. 8 Abs. 2 S. 2 Rom I-VO nicht. Für die Auslegung des Begriffs "vorübergehend" zieht die herrschende Meinung die in den Erwägungsgründen zu der Rom I-VO festgehaltenen Überlegungen heran. Demnach ist die Erbringung der Arbeitsleistung im Ausland vorübergehend, wenn erwartet wird, dass der Arbeitnehmer seine Arbeit im Herkunftsstaat wieder aufnimmt. Regelmäßig wird dies der Fall bei kurzen, zweckbefristeten Auslandsaufenthalten von weniger als einem Jahr sein, wie z.B. bei der populären "Workation"-Vereinbarung. In allen darüberhinausgehenden Fällen oder Fällen ohne Beschränkung der Zeitanteile des gestatteten Auslandsaufenthalts mit mobiler Arbeit ist eine ausführliche Prüfung der für die einzelnen Regelungsinhalte (z.B. Kündigungsrecht, Entgeltfortzahlungsregelungen) anzuwendenden zivilrechtlichen Rechtsvorschriften zu empfehlen. Damit die Anwendung deutschen Zivilrechts auf das Arbeitsverhältnis sichergestellt ist, sollte die Gestattung der mobilen Arbeit im Ausland zeitlich befristet sein und auch bezogen auf den gewährten Zeitanteil deutlich erkennen lassen, dass der Auslandsaufenthalt nur vorübergehend ist und der gewöhnliche Beschäftigungsort im Inland bleibt. Ist der gewöhnliche Beschäftigungsort im Einzelfall nicht festzustellen, gilt gemäß Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO das Recht des Staats der Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat. Will der Arbeitgeber sicherstellen, dass auch bei mobiler Arbeit im Ausland nicht ein anderes als das deutsche Arbeitsrecht gilt, ist darauf zu achten, dass die Einstellung in einer Niederlassung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland erfolgt. Liegt entgegen der Kriterien der Art. 8 Abs. 2, 3 Rom I-VO eine engere Verbindung zu einem anderen Staat vor, gilt gemäß Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO das Recht dieses Staats. Ob eine solche engere Bindung anzunehmen ist, ergibt sich aus der Gesamtheit der Umstände, wobei die Rechtsprechung vor allem auf die primär relevanten Kriterien als wichtige Anknüpfungspunkte abstellt. Dies sind z.B. der Sitz oder der Niederlassungsort des Arbeitgebers, der Wohnsitz oder gewöhnliche Aufenthaltsort des Arbeitnehmers und eine unterschiedliche Staatenzugehörigkeit der Parteien oder auch der Ort, von dem aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträge entrichtet werden oder von dem aus das Direktionsrecht des Arbeitgebers ausgeübt wird.
Rz. 332
Wird durch die Rechtswahl von den zwingend geltenden Rechtsvorschriften anderer Staaten abgewichen, ist im Wege eines Günstigkeitsprinzips zu ermitteln, ob die Abweichung zuungunsten des Arbeitnehmers ausfällt. In diesem Fall gilt das für den Arbeitnehmer günstigere zwingende Recht. Der Günstigkeitsvergleich zwischen den Rechtsordnungen ist mittels eines Sachgruppenvergleichs vorzunehmen. Ist ein Normenkomplex des zwingenden Rechts für den Arbeitnehmer günstiger als das Recht der gewählten Rechtsordnung (z.B. das Kündigungsschutzrecht), gilt das für diesen Normenkomplex günstigere Recht. Es ist deshalb denkbar, dass trotz einer Rechtswahl im Fall des Eingreifens günstigerer Normenkomplexe anderer Staaten unterschiedliche Rechtsordnungen für verschiedene Regelungen des Arbeitsverhältnisses Anwendung finden. Auch bei einer ausdrücklichen Rechtswahl sollten sich die Vertragspartner vor Abschluss einer Vereinbarung über mobile Arbeit im Ausland durch eine sorgfältige Prüfung Klarheit darüber verschaffen, welche sich aus der Systematik des Art. 8 Abs. 1 S. 2 Rom I-VO ergebenden zwingend anzuwendenden Rechtsnormen anderer Staaten für welche Inhalte des Arbeitsvertrags gelten.