Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 211
Bedeutung erlangt der Grundsatz der ergänzenden Vertragsauslegung bei der Überführung von Arbeitsverträgen, die vor dem 1.1.2002 begründet worden sind, in neues Recht. Enthält ein solcher Altvertrag einen Widerrufsvorbehalt, der nicht den förmlichen Anforderungen genügt, die § 308 Nr. 4 BGB an solche Vereinbarungen stellt (vgl. dazu Rdn 1725), lässt der 5. Senat des BAG diese Vertragsklausel nicht ersatzlos wegfallen. Dies entnimmt das Gericht aus der verfassungskonformen, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrenden Auslegung und Anwendung der §§ 305 ff. BGB. Denn eine Bindung des Arbeitgebers an die vereinbarte Leistung ohne Widerrufsmöglichkeit würde nach Ansicht des BAG unverhältnismäßig in die Privatautonomie eingreifen. Deshalb schloss das Gericht die entstandene Lücke im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung: Im konkret zu entscheidenden Fall hätte es nahe gelegen, dass die Parteien bei Kenntnis der neuen gesetzlichen Anforderungen die Widerrufsmöglichkeit zumindest bei wirtschaftlichen Verlusten des Arbeitgebers vorgesehen hätten. Diesem Widerrufsgrund hätte der Arbeitnehmer "redlicherweise nicht widersprochen." Dagegen lässt der 9. Senat bei solchen "Altfällen" eine ergänzende Vertragsauslegung nur dann zu, wenn der Arbeitgeber zumindest den Versuch unternommen hat, die nicht mehr den Anforderungen des § 308 Nr. 4 BGB entsprechende Widerrufsklausel der neuen Gesetzeslage anzupassen. Auch der 10. Senat neigt dieser Auffassung zu. Bei einer in einem Altvertrag enthaltenen, unverhältnismäßig hohen Vertragsstrafe, die entgegen bisheriger Rechtslage nicht mehr gem. § 343 BGB herabgesetzt werden kann, nahm das BAG dagegen keine ergänzende Vertragsauslegung vor. Auch bei zu kurz bemessenen Ausschlussfristen oder zu weit gefassten Stichtagsklauseln gewährt das Gericht keinen Vertrauensschutz.
Rz. 212
Diese Differenzierung zwischen formellen und materiellen Unwirksamkeitsgründen überzeugt vor allem deshalb, weil die Rekonstruktion des mutmaßlichen Parteiwillens im Fall des Widerrufsvorbehalts eine wirtschaftlich überzeugende ist: Konfrontiert mit der Wahl, entweder eine Leistung bis auf Widerruf bei "wirtschaftlichen Gründen" oder überhaupt nicht zu bekommen, erscheint die Wahl ersterer Alternative nahe liegend. Gleiches lässt sich z.B. bei einer inhaltlich zu weitreichenden Vertragsstrafe gerade nicht sagen. Selbst eine der Höhe nach noch angemessene Strafabrede wird nicht im Arbeitnehmerinteresse liegen, und die Faktoren, die ihn im Einzelfall dennoch zu ihrer Hinnahme bewogen hätten, sind der gerichtlichen Überprüfung im Nachhinein kaum zugänglich. Zudem ist das Arbeitgeberinteresse an der Verschonung von einer fortwährenden Zahlungsverpflichtung ungleich größer als am Erhalt einer einmaligen Vertragsstrafenzahlung. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des 9. Senats ist jedem Arbeitgeber jedoch dringend anzuraten, seinen Arbeitnehmern neue, den Anforderungen des AGB-Rechts genügende Arbeitsverträge anzutragen; lehnen diese die Unterzeichnung ab, spricht viel dafür, dass sie damit ihr Recht verwirken, sich auf die formelle Unwirksamkeit einer Vertragsklausel berufen zu können.
Rz. 213
Ob ein Vertrag als Altvertrag behandelt werden und ggf. Vertrauensschutz genießen kann, hängt jedoch nicht allein vom Zeitpunkt des ursprünglichen Vertragsschlusses ab. Erstreckt sich bei einer späteren Vertragsänderung die "rechtsgeschäftlichen Willensbildung" auch auf die betroffene Klausel, so ist der Zeitpunkt der Änderung maßgebend. Dies ist ggf. durch Auslegung zu ermitteln. Bereits die Aufnahme der Erklärung, dass "die dabei nicht genannten Regelung [weiter]gelten" oder "alle anderen Vereinbarungen aus dem Anstellungsvertrag unberührt bleiben", spricht nach Auffassung des BAG für eine ausdrückliche neue Vereinbarung. Auch wenn ein befristeter Arbeitsvertrag unter Beibehaltung der Vertragsbedingungen im Übrigen entfristet wird, soll es auf den Abschluss des entfristeten Vertrags ankommen. Nimmt der Arbeitgeber bei einer Änderungskündigung das Vertragsangebot an, so scheint das BAG dazu zu tendieren, insgesamt einen Neuabschluss anzunehmen.