Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 298
Tarifgebundene Arbeitgeber gewähren vielfach übertarifliche Zulagen. Wird später der Tariflohn erhöht, stellt sich die Frage, ob die Tariflohnerhöhung mit der Zulage verrechnet wird (Aufsaugung) oder ob die Zulage in voller Höhe weiter neben dem erhöhten Tariflohn zu zahlen ist (Aufstockung). Sieht der Arbeitsvertrag keine ausdrückliche Regelung vor, gilt folgendes: Im Regelfall darf der Arbeitgeber die Tariflohnerhöhung mit der Zulage verrechnen. Denn eine übertarifliche Zulage greift nach der Rechtsprechung zukünftigen Tariflohnerhöhungen lediglich vor. Für den Arbeitgeber sei es dagegen nicht vorhersehbar, ob er bei künftigen Tariflohnerhöhungen weiter in der Lage sein wird, die bisher gewährte Zulage weiterhin in unveränderter Höhe zu leisten; dies sei für den Arbeitnehmer aufgrund der Bezeichnung der Zulage als "übertariflich" erkennbar. Ist die Tariflohnerhöhung geringer als die übertarifliche Zulage, bleibt das Gehalt somit nominal unverändert. Es verschiebt sich allein das prozentuale Verhältnis von Tariflohn und übertariflicher Zulage. Die Anrechnung einer übertariflichen Zulage auf eine Erhöhung des allgemeinen Tariflohns soll ohne diesbezügliche vertragliche Regelung allerdings dann ausscheiden, wenn der Arbeitgeber mit der Zulage einen bestimmten Zweck verfolgt (sog. selbstständige Entgeltbestandteile). Das ist insbesondere bei Erschwernis-, Leistungs- oder Funktionszulagen der Fall. Diese Grundsätze gelten auch, wenn sich die Eingruppierung später als zu niedrig erweist: Erweist sich also die Eingruppierung als zu niedrig, so werden nur selbstständige Entgeltbestandteile nicht auf die zutreffende höhere Eingruppierung angerechnet.
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass aufgrund einer betrieblichen Übung eine Anrechnung ausgeschlossen sein kann. Das BAG hatte zuletzt eine Anrechnung abgelehnt, nachdem der Arbeitgeber (auch) den übertariflichen Vergütungsteil in der Vergangenheit stets in gleicher Weise erhöht hatte wie die tarifliche Vergütung. Ob und inwieweit sich hierdurch die oben beschriebene Rechtsprechung zur grundsätzlichen Anrechenbarkeit ändern wird, bleibt abzuwarten. Das BAG hat sich hierzu nicht ausdrücklich geäußert.
Die Aufnahme eines ausdrücklichen Anrechnungsvorbehalts in den Arbeitsvertrag ist unabhängig von der Art der Zulage anzuraten. Bei selbstständigen Entgeltbestandteilen wird eine Anrechnung hierdurch erst möglich. Der Anrechnungsvorbehalt selbst unterliegt bei solchen Zulagen einer Inhaltskontrolle nach § 308 Nr. 4 BGB. Er ist für den Arbeitnehmer allerdings zumutbar, weil sich die vom Arbeitgeber versprochene Gegenleistung durch einen Anrechnungsvorbehalt nicht verändert. Aber selbst dann, wenn der Arbeitgeber mit Zahlung der übertariflichen Zulage keinen eigenständigen Zweck verfolgt – und ein explizierter Anrechnungsvorbehalt damit nicht erforderlich wäre –, schafft eine solche Regelung Transparenz und vermeidet damit Auslegungsschwierigkeiten. Sie steuert vor allem die Erwartungshaltung der Arbeitnehmer und macht eine tatsächlich vorgenommene Anrechnung besser erklär- und nachvollziehbar. Der Anrechnungsvorbehalt unterliegt in diesen Fällen als bloße Bruttolohnabrede gemäß § 307 Abs. 3 S. 1 BGB keiner ABG-rechtlichen Inhalts-, sondern nur einer Transparenzkontrolle.
Das BAG stellt keine hohen Anforderungen an die Transparenz des Anrechnungsvorbehalts. Die Bezeichnung als "anrechenbare betriebliche Ausgleichszulage" sei hinreichend klar und verständlich. Die Anrechnungsgründe müssen in der Klausel ebenfalls nicht näher bestimmt werden. Es ist allerdings nicht empfehlenswert, die Anrechenbarkeit auf "kommende" Tariflohnerhöhungen zu beschränken. In diesem Fall soll dem Arbeitgeber eine Anrechnungsbefugnis nur zustehen, wenn er von ihr bereits bei der erstmaligen Gehaltsabrechnung nach der Tariflohnerhöhung Gebrauch macht.
Grundsätzlich bedarf die Anrechnung einer entsprechenden Erklärung des Arbeitgebers. Ob die Anrechnungserklärung des Arbeitgebers im Einzelfall einer Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 1 BGB unterliegt, ist umstritten. Dieser Streit wird sich im Regelfall nicht auswirken, weil das Arbeitsentgelt nominal unverändert bleibt, und eine Anrechnung schon allein deshalb nicht unbillig ist. Bei der Ausübung seiner Anrechnungsbefugnis ist der Arbeitgeber allerdings an den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden und darf damit die Anrechnung nicht ohne sachlichen Grund auf bestimmte Arbeitnehmergruppen beschränken. Ein etwaiges Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG ist ebenfalls zu beachten. Danach hat der Betriebsrat mitzubestimmen, wenn sich durch die Anrechnung die bisherigen Verteilungsrelationen ändern und innerhalb des vom Arbeitgeber mitbestimmungsfrei vorgegebenen Dotierungsrahmens ein Gestaltungsspielraum bleibt. Die Anrechnung ist dagegen mitbestimmungsfrei, wenn die Tariferhöhung im Rahmen des rechtlich und tatsä...