Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 1391
Die Einordnung der Sonderzahlung in eine solche mit Entgelt- und/oder Gratifikationscharakter ist maßgebliches Kriterium für die Beurteilung zahlreicher mit der Sonderzahlung im Zusammenhang stehender rechtlicher Fragestellungen.
Reinen Entgeltcharakter haben Sonderzahlungen, mit denen ausschließlich die im Bemessungszeitraum erbrachte Arbeitsleistung des Arbeitnehmers vergütet werden soll. In diesem Fall entsteht der Anspruch auf die Sonderzahlung bereits im Laufe des Bezugszeitraums entsprechend der zurückgelegten Dauer sowie Arbeitsleistung und wird lediglich zu einem bestimmten späteren Zeitpunkt insgesamt fällig. Reinen Gratifikationscharakter haben demgegenüber Sonderzahlungen, die unabhängig von der erbrachten Arbeitsleistung allein die Betriebstreue des Arbeitnehmers belohnen wollen. Solche Zuwendungen sollen demnach ausschließlich als Treueprämie erwiesene und/oder als Halteprämie künftige Betriebstreue honorieren. Die Sonderzahlung mit Mischcharakter soll beide Elemente – also Entgelt- sowie Gratifikationscharakter – verbinden und sowohl die bereits erbrachte Arbeitsleistung und Betriebstreue belohnen als auch einen Anreiz für künftige Betriebstreue setzen. Die praktische Bedeutung der Sonderzahlung mit Mischcharakter ist aufgrund der begrenzten Zulässigkeit hierauf bezogener formularvertraglicher Bindungsklauseln (vgl. Rdn 1395) allerdings nur noch gering.
Rz. 1392
Ist die Zwecksetzung der Sonderzahlung im Vertrag nicht ausdrücklich benannt, ist sie unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls im Wege der Auslegung zu ermitteln. Der sprachlichen Bezeichnung kommt dabei angesichts des in der Praxis völlig uneinheitlichen Sprachgebrauchs keine entscheidende Bedeutung zu. Zwar sprechen Begriffe wie Sonderzahlung, Gratifikation, Weihnachtsgeld, Jahressonderleistung oder Urlaubsgeld für den Gratifikationscharakter einer Leistung, während der Begriff des 13. Monatsgehalts eher auf eine reine Entgeltzahlung hindeutet. Allerdings kann auch ein "Weihnachtsgeld", das im systematischen Zusammenhang mit der Vergütungsregelung steht, als reiner Vergütungsbestandteil gewertet werden. Der sprachlichen Bezeichnung der Sonderzahlung kommt daher allenfalls geringe Indizwirkung zu. Maßgeblich sind vielmehr die vertraglichen Gesamtumstände. Die Zwecksetzung ergibt sich dabei vor allem aus den tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen, von deren Vorliegen und Erfüllung die Zahlung abhängig gemacht wird, aber auch aus der systematischen Verortung der Regelung innerhalb des Vertrages.
Der Entgeltcharakter einer Sonderzahlung wird vornehmlich dadurch betont, dass der Zahlungsanspruch unmittelbar von der Arbeitsleistung abhängt, dass er im Jahr eines unterjährigen Ein- und Austritts nur pro rata temporis gewährt wird und für Zeiten, in denen kein Entgelt(fortzahlungs)anspruch besteht, entfällt. Von einem Entgeltcharakter ist regelmäßig auch dann auszugehen, wenn die Sonderzahlung an das Erreichen quantitativer oder qualitativer Ziele geknüpft ist oder einen wesentlichen Anteil an der Gesamtvergütung des Arbeitnehmers ausmacht. Demgegenüber ergibt sich der Gratifikationscharakter einer Sonderzahlung aus der Bindung des Arbeitnehmers an das Arbeitsverhältnis, die in der Praxis insbesondere durch Wartezeiten, Stichtags- und Rückzahlungsklauseln erreicht wird. Will der Arbeitgeber mit der Sonderzahlung andere Ziele als die Vergütung der Arbeitsleistung verfolgen, muss dies deutlich aus der (ggf. konkludent getroffenen) arbeitsvertraglichen Abrede hervorgehen. Hängt der Anspruch auf die Sonderzuwendung weder von einer bestimmten Wartezeit noch von einem ungekündigten Bestand des Arbeitsverhältnisses zum Auszahlungszeitpunkt ab und ist auch eine Rückzahlungsklausel nicht vereinbart, so spricht das Fehlen solcher weiterer Voraussetzungen dafür, dass die Sonderzahlung ausschließlich als Gegenleistung für die Arbeitsleistung geschuldet wird und somit reinen Entgeltcharakter hat.