Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
aa) Anwendbarkeit von Tarifverträgen
Rz. 1454
Man unterscheidet Tarifverträge nach ihrem Regelungsgegenstand und nach ihren Parteien. Eine Tarifbindung entsteht kollektivrechtlich grundsätzlich dadurch, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer Mitglieder im Arbeitgeberverband bzw. in der Gewerkschaft sind oder dass der einschlägige Tarifvertrag gemäß § 5 TVG durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales für allgemeinverbindlich erklärt wird.
Davon getrennt zu betrachten ist die individualvertragliche Bezugnahme auf einen oder mehrere Tarifverträge bzw. auf einzelne Teile von Tarifverträgen. Diese Bezugnahme kann entweder ausdrücklich erfolgen oder nach allgemeiner Ansicht auch konkludent bzw. durch betriebliche Übung. Der einbezogene Tarifvertrag wirkt allein schuldrechtlich kraft privatautonomer Vereinbarung. Die Bezugnahme führt also nicht dazu, dass der Arbeitgeber damit zugleich auch kollektivrechtlich im Sinne der §§ 3 ff. TVG gebunden wäre.
Die Gründe für die Verwendung von Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträgen sind vielfältig. Der tarifgebundene Arbeitgeber kann mit ihr für alle Arbeitnehmer – ungeachtet ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit – einheitliche Arbeitsbedingungen schaffen. Teilweise werden Bezugnahmeklauseln auch verwendet, um Anreize zu verringern, dass Arbeitnehmer der Gewerkschaft beitreten. Die Klausel erleichtert die Arbeitsvertragsgestaltung. Schließlich ermöglicht eine partielle Bezugnahme vom (tarifdispositiven) Gesetzesrecht abzuweichen, was im Wettbewerb um qualifizierte Arbeitnehmer sinnvoll sein kann. Die Aufnahme von Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträge birgt jedoch auch etliche, nicht zuletzt wirtschaftliche Risiken für den Arbeitgeber. Rechtlich bereiten Bezugnahmeklauseln an verschiedenen Stellen Probleme: Abgesehen von der hier primär interessierenden Vertragsgestaltung können sie im Falle eines Austritts aus dem Arbeitgeberverband, im öffentlichen Dienstrecht, bei Kündigungen, bei Umwandlungen, Unternehmenskäufen oder Insolvenzfällen relevant werden.
bb) Arten von Bezugnahmeklauseln
Rz. 1455
Herkömmlich wird zwischen statischen und dynamischen Klauseln unterschieden. Statische Klauseln beziehen sich auf einen bestimmten, hinsichtlich der geltenden Fassung präzise bezeichneten Tarifvertrag. Künftige Änderungen des Tarifvertrages haben keine Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis. Dynamische Klauseln verweisen im Grundsatz als kleine dynamische Klauseln auf die Fassung des jeweils gültigen Tarifvertrags und als große dynamische Klauseln auf die jeweilig gültigen Fassungen der jeweils einschlägigen Tarifverträge. Diese Typologie besagt allerdings nichts über ihre rechtliche Wirkung, da hierfür allein die einzelfallbezogene Auslegung der Klausel entscheidend ist. Zudem wird zwischen Global-, Teil- und Einzelverweisen differenziert. Die Vertragsfreiheit erlaubt natürlich auch eine Kombination, so z.B. halbdynamische Verweisungen oder Verweisungen auf mehrgliedrige Tarifverträge (d.h. dass mindestens auf einer Seite mehrere Tarifvertragsparteien auftreten oder ein Spitzenverband einen Tarifvertrag im Namen seiner Mitgliedsverbände abschließt oder sich eine weitere Partei einem bereits bestehenden Tarifvertrag anschließt).
Rz. 1456
Bei der Wahl dynamischer Bezugnahmeklauseln ist zu bedenken, dass damit auch eine Dynamik hinsichtlich der rechtlichen Bewertung verbunden sein kann, wenn sich später Änderungen der Verbandszugehörigkeit oder des Geschäftsbereichs und damit des sachlich anwendbaren Tarifvertrages ergeben oder wenn es zu einem Betriebs(teil)übergang kommt. Die große dynamische Bezugnahmeklausel ist regelmäßig als sogenannte Tarifwechselklausel auszulegen, bei der die Dynamik der Verweisung auch zukünftige Änderungen der Tarifbindung des Arbeitgebers mitberücksichtigt. Die Bezugnahme in Form der statischen o...