Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 1724
Das BAG unterzieht Widerrufsvorbehalte einer zweistufigen Prüfung. Auf der ersten Stufe wird die wirksame Vereinbarung des Widerrufs kontrolliert (Vereinbarungskontrolle). Wirksam vereinbart wird ein Widerrufsvorbehalt nur dann, wenn er bestimmten inhaltlichen und formalen Anforderungen genügt. Neben diese Vereinbarungskontrolle tritt die Ausübungskontrolle als zweite Stufe. Dort wird überprüft, ob der Arbeitgeber von seinem – wirksam vereinbarten – Widerrufsrecht im Einzelfall in zulässiger Art und Weise Gebrauch gemacht hat.
aa) Inhaltliche Anforderungen
Rz. 1725
Die Wirksamkeitsgrenzen für vorformulierte Widerrufsvorbehalte folgen aus den §§ 307, 308 Nr. 4 BGB. Danach muss die Widerruflichkeit dem Arbeitnehmer zumutbar sein. Das ist der Fall, wenn der Widerruf nicht grundlos erfolgen soll, sondern wegen der unsicheren Entwicklung der Verhältnisse als Instrument der Anpassung notwendig ist. Die Notwendigkeit beurteilt sich wiederum auf Grundlage einer Interessenabwägung, die vor allem die Art und Höhe der zu widerrufenden Leistung, die Höhe des verbleibenden Verdienstes und die Stellung des Arbeitnehmers im Unternehmen berücksichtigt. Die Interessenabwägung muss ergeben, dass die Widerrufsgründe den Widerruf typischerweise rechtfertigen, d.h. losgelöst vom konkreten Einzelfall. Es gelten folgende Leitlinien:
(1) Unzulässig: Eingriffe in den Kernbereich
Rz. 1726
Ein Arbeitgeber kann Leistungen, die den Kernbereich des Arbeitsverhältnisses betreffen, nicht mit einem Widerrufsvorbehalt versehen. Ein solcher würde gegen die Wertung des § 307 Abs. 2 BGB verstoßen. Das BAG konkretisiert den Kernbereich anhand zweier Grenzen – der tariflichen Vergütung einerseits und einem bestimmten Höchstsatz an der Gesamtvergütung andererseits. Der Kernbereich soll immer dann betroffen und ein Widerrufsvorbehalt somit unzulässig sein, wenn dem Arbeitnehmer nach Ausübung des Widerrufs nicht mehr die tarifliche Vergütung verbleibt. Diese Einschränkung ist allerdings abzulehnen. Tarifverträge sind kein tauglicher Maßstab für die Inhaltskontrolle (siehe dazu Rdn 178 ff.). Im Übrigen darf bei Tarifgebundenheit der Tariflohn ohnehin nicht unterschritten werden. Nicht tarifgebundene Arbeitgeber ohne gesetzliche Anordnung an den Tariflohn als Untergrenze zu binden, wäre höchst bedenklich. Vorzugswürdig ist es, stattdessen die Rechtsprechung zur sittenwidrig niedrigen Vergütung als absolute Untergrenze für den Widerrufsvorbehalt heranzuziehen (siehe dazu Rdn 1742).
Rz. 1727
Ein unzulässiger Eingriff in den Kernbereich soll auch dann vorliegen, wenn ein bestimmter Prozentsatz des Gesamtverdienstes widerruflich gestellt wird. Die genaue Höhe bestimmt das BAG nach der Art der zu widerrufenden Leistung. Für im Gegenseitigkeitsverhältnis stehende Leistungen muss der widerrufliche Teil unter 25 % des Gesamtverdienstes liegen. Bei Zahlungen, die nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen (z.B. Aufwendungsersatz), soll sich der widerrufliche Teil auf bis zu 30 % der Gesamtvergütung erhöhen dürfen. Soll ein höherer Anteil der Vergütung flexibilisiert werden, ist ein Freiwilligkeitsvorbehalt (siehe dazu Rdn 929 ff.) oder eine Teilbefristung (siehe dazu Rdn 644 ff.) in Betracht zu ziehen.