Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 1675
"Wer hoch aufsteigt, kann tief fallen." Diese Lebensweisheit bewahrheitet sich in der Unternehmenspraxis immer dann, wenn die Wirtschaftszeiten rauer werden. Durch die Wirtschaftsmagazine und die Fachpresse mäandert in diesem Kontext – nicht zuletzt als Werbefläche für Anwaltskanzleien – oft das Schlagwort der "Entleitung" oder dramatischer gar die sog. "Entleitungsfalle". Sachlich reduziert beschreibt die Entleitung die schleichende Degradierung von Führungskräften durch den Entzug von Aufgaben und Funktionen, ihre Versetzung auf ungeliebte Posten bzw. in Projekttätigkeiten und nicht zuletzt die Beschneidung der arbeitsvertraglichen Gegenleistung (insbesondere die Absenkung der variablen Vergütung oder den Entzug des Dienstwagens). In der Praxis erhält die Führungskraft in der Regel ein Schreiben des Arbeitgebers, in dem ihr zunächst mitgeteilt wird, sie zähle ab sofort nicht mehr zum Kreis der "leitenden Angestellten", um dann relativierend auszuführen, dass sich der Aufgabenbereich nicht grundlegend ändere und sich auch bei der Vergütung sowie Altersversorgung keine bzw. nur geringfügige Änderungen ergäben. Ziel des Arbeitgebers ist es, dem betroffenen Arbeitnehmer zu suggerieren, es ändere sich nur der Titel oder die interne Bezeichnung, während der Aufgaben- und Verantwortungsbereich bei im Wesentlichen gleicher Vergütung und auch ansonsten unveränderten Arbeitsbedingungen fortbestehe.
Rz. 1676
Soweit ersichtlich setzt sich nur eine höchstrichterliche Entscheidung mit der Begrifflichkeit der "Entleitung" und ihren rechtlichen Hintergründen auseinander. In seinem Urteil aus dem Jahr 2008 stellt der Zweite Senat diesbezüglich unter den Rn 22 ff. fest:
Zitat
b) Die Möglichkeit, den Kläger zu seinen bisherigen Arbeitsbedingungen zu beschäftigen, ist (…) auch nicht wegen einer betrieblich veranlassten Änderung des bisherigen Stellen- und Anforderungsprofils entfallen. Zwar kann eine unternehmerische Entscheidung zur Umstrukturierung des Betriebs oder einzelner Arbeitsplätze auch das Anforderungsprofil der verbleibenden Arbeitsplätze erfassen (vgl. Senat 10.7.2008 – 2 AZR 1111/06 – Rn 24 f. m.w.N., AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 181 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 163; 7.7.2005 – 2 AZR 399/04 – Rn 32, AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 138 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 138). Damit haben aber die Festlegung von Tätigkeitsmerkmalen in einem tariflichen Entgeltgruppenschema und dessen Anwendung im Betrieb nichts zu tun. Das Anforderungsprofil beschreibt die Anforderungen an die Fähigkeiten des Arbeitsplatzinhabers, die sich unmittelbar aus der übertragenen Arbeitsaufgabe und/oder aus einem vom Arbeitgeber festgelegten Stellenprofil ergeben. Demgegenüber bestimmt sich nach den tariflichen Eingruppierungskriterien, wo die so ausgestaltete Tätigkeit des Arbeitnehmers in das tarifliche Entgeltschema einzureihen ist. (…)
2. Die Beklagte hat keine Änderungen des Arbeitsvolumens des Klägers aufgezeigt. Es geht ihr allein um die Änderung der materiellen Arbeitsbedingungen. Diese wiederum stützt sie ausdrücklich nicht auf wirtschaftliche Gründe. Mögliche Gehaltseinbußen des Klägers seien nicht das Ziel ihrer Kündigung, sondern hinzunehmende Folge der lediglich die Tarifänderungen widerspiegelnden Änderungen der Arbeitsbedingungen.
3. Die Neuordnung der tariflichen Entgeltstruktur begründet kein dringendes betriebliches Erfordernis zur Änderung der Arbeitsbedingungen des Klägers.
a) Die Parteien haben einzelvertraglich die Beschäftigung des Klägers im außertariflichen Angestelltenverhältnis vereinbart. Nach ihrem Willen sollten damit tarifvertragliche Regelungen auf das Arbeitsverhältnis keine Anwendung finden.
b) Der Arbeitgeber bleibt grundsätzlich an den einmal geschlossenen Arbeitsvertrag gebunden, selbst wenn er später Arbeitnehmer zu für ihn günstigeren Bedingungen einstellen könnte. Dies gilt sowohl bei einem Tarifwechsel als auch bei Inkrafttreten einer neuen gesetzlichen Regelung (Senat 12.1.2006 – 2 AZR 126/05 – Rn 21, 22, AP KSchG 1969 § 2 Nr. 82 = EzA KSchG § 2 Nr. 56).
c) Das bloße Interesse eines tarifgebundenen Arbeitgebers, die Arbeitsbedingungen der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer zu vereinheitlichen, ist kein Kündigungsgrund i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG. Es fehlt an einem (dringenden) betrieblichen Erfordernis. Der Arbeitgeber kann Arbeitnehmern, mit denen er individualvertraglich günstigere oder vollkommen andere Regelungen vereinbart hat, als dies dem allgemeinen betrieblichen oder tariflichen Niveau entspricht, ihre Rechtsstellung nicht unter Berufung auf den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz entziehen (vgl. Senat 12.1.2006 – 2 AZR 126/05 – Rn 28, AP KSchG 1969 § 2 Nr. 82 = EzA KSchG § 2 Nr. 56). Der Gleichbehandlungsgrundsatz dient der Begründung von Rechten, nicht deren Einschränkung (Senat 12.1.2006 – 2 AZR 126/05 – Rn 28, a.a.O.; 16.5.2002 – 2 AZR 292/01 – zu B II 4 der Gründe, EzA KSchG § 2 Nr. 46; KR/Rost 9. Auf...