Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 1407
Mit der Einführung des Mindestlohngesetzes (MiLoG) zum 16.8.2014 hat sich die Frage ergeben, ob und in welchem Umfang Sonderzahlungen auf den gesetzlichen Mindestlohn gemäß § 1 Abs. 2 MiLoG angerechnet werden können.
Dabei stellt sich zunächst die Frage, ob der Mindestlohn stundenbezogen zu leisten ist oder ob auch eine Durchschnittsbetrachtung zulässig ist. Nach h.M. ist den Anforderungen des MiLoG auch dann genügt, wenn nicht explizit eine Stundenvergütung vereinbart ist, solange im jeweiligen Fälligkeitszeitraum gemäß § 2 Abs. 1 MiLoG die Vergütung des Arbeitnehmers insgesamt den gesetzlichen Mindestlohn erreicht. Welche Zahlungen dabei auf den Mindestlohn angerechnet werden können, ist bislang nicht in allen Details geklärt. Nach überwiegender Auffassung kann hierzu auf die Rechtsprechung des EuGH zur Entsenderichtlinie 96/71/EG zurückgegriffen werden. Demnach können alle Vergütungsbestandteile in den Mindestlohn einbezogen werden, die das Verhältnis zwischen der Leistung des Arbeitnehmers und der Gegenleistung, die er dafür erhält, nicht verändern. Das BAG geht von einer Anrechnung aus, wenn der Zweck der Leistung des Arbeitgebers mit dem Zweck des Mindestlohnes "funktionell gleichwertig" ist, wenn also die Zahlung des Arbeitgebers die "normale Arbeitsleistung" des Arbeitnehmers abgelten soll.
Sonderzahlungen sind deshalb nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung zum einen nur dann mindestlohnwirksam, wenn sie im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis erbracht werden und zumindest auch die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers vergüten sollen, nicht aber, wenn sie als reine Gratifikation ohne Rücksicht auf eine tatsächliche Arbeitsleistung des Arbeitnehmers lediglich die Betriebstreue honorieren sollen oder auf einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung beruhen. Zum anderen können nur monatlich verstetigte, mindestens aber in den Fälligkeitszeitraum des § 2 Abs. 1 MiLoG fallende Zahlungen als mindestlohnwirksam angesehen werden. Sonderzahlungen, die monatlich unwiderruflich ausgezahlt werden, sind damit auf den Mindestlohn anzurechnen. Sonderzahlungen, die nur ein- oder zweimal jährlich ausgezahlt werden, können demgegenüber zwar ebenfalls Entgeltcharakter besitzen, wegen der Fälligkeitsregelung des § 2 Abs. 1 MiLoG allerdings nur insoweit als Bestandteil des Mindestlohns berücksichtigt werden, wie die Auszahlung in den jeweiligen Referenzzeitraum fällt. Ist als Referenzzeitraum der jeweilige Kalendermonat zu betrachten, kann z.B. ein im Juni gezahltes Urlaubsgeld nur für die Mindestlohnansprüche im Juni berücksichtigt werden, nicht jedoch für die Mindestlohnansprüche im Mai oder Juli. Zudem ist zu beachten, dass die "Anrechnung" von Sonderzahlungen auf den gesetzlichen Mindestlohn voraussetzt, dass die für eine geleistete Arbeitsstunde vertraglich vereinbarte Grundvergütung nicht ausreicht, den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn zu erfüllen. Nur in diesem Falle entsteht nach § 3 MiLoG ein Differenzanspruch, der mit mindestlohnwirksamen Sonderzahlungen erfüllt werden kann. Ist indes die vertraglich oder normativ geschuldete Grundvergütung mindestens so hoch wie der gesetzliche Mindestlohn, bleibt für die "Anrechnung" einer Sonderzahlung auf diesen kein Raum. Die Sonderzahlung ist in diesem Fall neben der Grundvergütung zu zahlen.
Die nachträgliche Umwandlung einmaliger Sonderzahlungen in mindestlohnwirksame monatliche Leistungen ist nur in engen Grenzen möglich. Eine hierauf gerichtete Änderungskündigung müsste den strengen Anforderungen an eine Änderungskündigung zur Entgeltreduzierung genügen. Eine arbeitsvertragliche Änderungsvereinbarung, sofern sie im Rahmen allgemeiner Vertragsbedingungen erfolgt und in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang zu der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns erfolgt ist, könnte an § 3 S. 1 MiLoG zu messen sein, möglicherweise zudem gegen § 307 BGB verstoßen. Die nachträgliche "Zwölftelung" einer arbeitsvertraglich vereinbarten Sonderzahlung durch Betriebsvereinbarung ist demgegenüber zulässig, wenn die Sonderzahlung kollektiven Bezug aufweist.