Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 1459
Bezugnahmeklauseln, die nach dem 1.1.2002 vereinbart wurden, sind primär nach ihrem Wortlaut auszulegen sowie nach den Begleitumständen des Vertragsschlusses. Die Auslegung orientiert sich also nicht – wie bei Altverträgen – an einem unterstellten Gleichstellungszweck der Bezugnahmeklausel. Bei der Formulierung von Bezugnahmeklauseln ist deshalb besondere Vorsicht geboten. Kommt es zu Auslegungszweifeln, gilt nach Rspr. des BAG die Unklarheitsregel des § 305c Abs. 2 BGB. Zweideutigkeiten und Unklarheiten gehen hiernach zulasten des Arbeitgebers. Hieraus und aus den Vorgaben des § 307 BGB erwachsen nicht selten Schwierigkeiten, denen mit einer präzisen Formulierung zu begegnen ist.
Wird nicht deutlich, wie und in welchem (zeitlichen) Umfang auf einen Tarifvertrag verwiesen wird, nimmt das BAG im Zweifel eine dynamische Verweisung an, wobei bisher ungeklärt ist, ob dies auch dann gilt, wenn eine statische Verweisung für den Arbeitnehmer günstiger wäre. Verfolgt ein Vertragspartner Regelungsziele wie die Gleichstellung nichtorganisierter und organisierter Arbeitnehmer, so müssen diese Motive in der Klausel hinreichend zum Ausdruck kommen.
Soll also wegen § 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 15 NachwG lediglich ein deklaratorischer Hinweis über die tarifliche Lage "im Übrigen" in den Vertrag aufgenommen werden, muss dieser deklaratorische Hinweis hinreichend deutlich werden.
In Neuverträgen sind dynamische Bezugnahmeklauseln als konstitutive Verweisung, also unbedingte zeitdynamische Verweisung zu verstehen, sofern der Wortlaut keine andere Auslegung nahelegt. Die bloße Tarifgebundenheit des Arbeitgebers zum Zeitpunkt des Arbeitsvertragsabschlusses rechtfertigt es ohne Hinzutreten weiterer Anhaltspunkte nicht, eine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede auszulegen. Auf eine so verstandene konstitutive Bezugnahmeklausel hat es keinen Einfluss, wenn die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers später wegfällt. Auch bei Verbandswechseln bleibt es bei der Anwendbarkeit des in Bezug genommenen Tarifvertrages. Für organisierte Arbeitnehmer kann dies dazu führen, dass unterschiedliche Tarifverträge anwendbar sind – einmal aufgrund der vertraglichen Regelung und einmal aufgrund der Gewerkschaftsmitgliedschaft. Diese Situation ist nach den Grundsätzen des Günstigkeitsprinzips aufzulösen.
Im Fall eines Betriebsübergangs behält eine Bezugnahmeklausel grundsätzlich ihre Dynamik. Bei einer kleinen dynamischen Bezugnahme finden daher weiterhin die zum Zeitpunkt des Übergangs beim Veräußerer angewendeten Tarifverträge in ihrer jeweils geltenden Fassung ungeachtet der beim Erwerber einschlägigen Tarifverträge.
Rz. 1460
Wer eine inhaltlich-zeitliche Dynamik verhindern will, muss den in Bezug genommenen Tarifvertrag datumsmäßig exakt konkretisieren. In einem solchen Fall ist es zu vermeiden, die statische Klausel in der Praxis als dynamische zu leben, d.h. tarifliche Veränderungen an die Arbeitnehmer weiterzugeben. Ansonsten kommt eine konkludente Änderung der statischen Klausel in eine dynamische Klausel in Betracht.
Ist dagegen eine inhaltlich-zeitliche Dynamik gewollt, sollte jedenfalls der Gleichstellungszweck ausdrücklich formuliert werden, damit dieser bei der Auslegung mitberücksichtigt werden kann. Je nachdem, ob die Klausel auch für Verbands- und Zuständigkeitswechsel oder sogar für Betriebsübergänge gelten soll, muss sie diesbezüglich "differenzierten Gestaltungswillen" erkennen lassen. Ansonsten kann die Auslegung ergeben, dass beispielsweise eine ursprünglich deklaratorisch verfasste Klausel bei Verbandsaustritt konstitutiv gilt und damit Tarifbindung "bis in alle Ewigkeit" erzeugt.
Rz. 1461
Die Formulierung der Bezugnahmeklausel muss so eindeutig sein, dass eine andere Auslegung nicht in Betracht kommt. Vom Wortlaut der Bezugnahmeklausel abweichende Regelungsziele können bei der Auslegung nur berücksichtigt werden, wenn sie für den Vertragspartner hinreichend zum Ausdruck kommen. Eine auf einen Verbandstarifvertrag verweisende Klausel kann daher nicht ohne weitere Anhaltspunkte als auch auf einen Firmentarifvertrag verweisende Klausel ausgelegt werden. Auch bei Bezugnahme auf "einschlägige Tarifverträge" ist nicht zuletzt wegen § 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 15 NachwG Vorsicht geboten. Die in Bezug genommenen Tarifverträge sind möglichst genau nach Kenntnis des Arbeitgebers zu bezeichnen. Schließlich muss der Umfang der Bezugnahme insbesondere auch mit Blick auf eine mögliche Tarifsukzession klar sein.
Rz. 1462
Wird ein Altvertrag nachträglich geändert, so ist für die rechtliche Beurteilung entscheidend, ob die Bezugnahmeklausel erneut zum Gegenstand der rechtsgeschäftlichen Willensbildung gemacht worden ist. Die Annahme eines Altvertrages und eine damit verbundene Rechtsfolgenkorrektur unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes sind demnach ausgeschlossen, wenn ausdrücklich festgehalten wird, dass alle sonstig...