Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 1683
Wie § 611a Abs. 1 S. 1 BGB zeigt, ist Wesensmerkmal des Arbeitsverhältnisses die Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit. Im Rahmen der digitalen Transformation hin zur "Industrie 4.0/Arbeitswelt 4.0" gewinnen dabei zunehmend Automatisierung und Vernetzung an Bedeutung. Beispielsweise können veränderte Situationen in einer Produktionslinie direkt an Mitarbeiter des Unternehmens, aber auch vor- und nachgelagerter Prozesse, etwa Mitarbeiter in Zulieferbetrieben und bei Logistikdienstleistern, kommuniziert werden. Teilweise wird sogar die bedarfsabhängige Einstellung von Mitarbeitern durch Maschinen für möglich gehalten. Aber auch Weisungen durch weitgehend autonome Systeme sind, wenn auch in Grenzen, denkbar. Dass Arbeitnehmern beispielsweise durch einen zentral gesteuerten Algorithmus Arbeitsaufträge erteilt werden, erscheint nach dem ersatzlosen Entfall von § 6a BDSG a.F. jedenfalls innerhalb der Grenzen von Art. 22 DSGVO möglich, sodass im Sinne einer Mindestanforderung neben der Einwilligung des Arbeitnehmers auch ein auf Anforderung im Einzelfall erfolgendes Einwirken eines (humanen) Verantwortlichen in den maschinellen Entscheidungsprozess gewährleistet sein muss (vgl. Art. 22 Abs. 2 Buchst. c in Verbindung mit III DSGVO). Dass etwaige Rückfragen eines Arbeitnehmers oder die Vermittlung von zur Bearbeitung des Arbeitsauftrags erforderliches Zusatzwissen in einem zweiten Schritt dabei zunächst ebenfalls mittels Interaktion mit einem autonom kommunizierenden Digitalen Assistenten (z.B. "Google Duplex" oder "Amazon Alexa") erfolgen und Arbeitnehmer so Künstliche Intelligenz nutzen, um ihre eigenen Fähigkeiten zu ergänzen und zu verbessern, ebenso. Selbst eine Leistungs- und Verhaltenskontrolle mittels "technischer Einrichtungen" ist, wenn auch in Grenzen, denkbar und bereits Realität. Die "technische Einrichtung" ist daher längst mehr als nur "Annex". Der Arbeitgeber verfügt somit über ein in den Grenzen des im Wege der Auslegung anhand eines dynamischen Berufsbildes zu ermittelndes, wenn auch in seinen Konturen noch näher zu bestimmendes, "digitales Weisungsrecht". Hier wird es sowohl flankierender Maßnahmen des Gesetzgebers wie auch weiterer Konkretisierung auf Unternehmensebene, etwa durch Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG) bedürfen. Als Mindeststandard wird hier auch in Ansehung von Art. 22 Abs. 3 DSGVO zu fordern sein, dass für Mitarbeiter neben Möglichkeiten zur "Remonstranz" an eine Führungskraft auch arbeitgeberseitig "humane Ansprechpartner" für die persönlichen Belange der Beschäftigten im jeweiligen Betrieb vorhanden sein werden.
Auch in deutschen Unternehmen ist der Trend zu beobachten, dass sich Teams selbst organisieren und sich Hierarchien verflüchtigen, verbunden mit einer Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter (Stichworte: agiles Arbeiten und agile Teamstrukturen). Eine vertikale Führungsstruktur mit Weisungsbefugnis und Weisungshörigkeit von "oben nach unten" (sog. "top down") scheint in vielen Branchen nicht mehr zeitgemäß. Vorgesetzte bzw. Führungskräfte werden integrale Bestandteile von Arbeitseinheiten und agieren innerhalb des Teams auf "Augenhöhe" mit den Mitarbeitern.
Sieht der Arbeitsvertrag eine Tätigkeit des Arbeitnehmers in einer Betriebsstätte des Arbeitgebers vor, ist der Arbeitgeber nicht allein aufgrund seines arbeitsvertraglichen Weisungsrechts berechtigt, dem Arbeitnehmer Telearbeit zuzuweisen. Mit einer entsprechenden Weisung überschreitet der Arbeitgeber den vereinbarten Vertragsrahmen. Hierfür bietet § 106 S. 1 GewO keine Grundlage. Die Umstände einer ausschließlich in der eigenen Wohnung zu verrichtenden Arbeit sind mit einer Tätigkeit, die in einer Betriebsstätte zusammen mit weiteren Mitarbeitern des Arbeitgebers auszuüben ist, nicht zu vergleichen. Der Arbeitnehmer verliert den unmittelbaren Kontakt zu seinen Kollegen. Die Möglichkeit, sich mit den Kollegen auszutauschen, ist deutlich verringert. Auch werden die Grenzen von Arbeit und Freizeit fließend. Der Arbeitnehmer ist zudem für die betriebliche Interessenvertretung und die im Betrieb vertretenen Gewerkschaften schwerer erreichbar.