Martin Brock, Dr. Katja Francke
Rz. 192
Der Gesetzgeber hat zwei Regelfälle unangemessener Benachteiligungen in § 307 Abs. 2 BGB kodifiziert. Ihr Vorliegen ist vor einem Rückgriff auf die allgemeine Vorschrift des Abs. 1 zu prüfen. Die Abweichung von dem wesentlichen Grundgedanken einer gesetzlichen Regelung begründet nach der Nr. 1 die Vermutung einer unangemessenen Benachteiligung. Der Begriff der "gesetzlichen Regelung" erfasst zuvorderst das dispositive Recht. Denn eine Abweichung von zwingendem Gesetzesrecht ist ohnehin unzulässig. Die Vorschrift verdankt ihre Existenz der Leitbildfunktion des dispositiven Rechts. Selbst abdingbares Gesetzesrecht enthält eine nach Ansicht des Normgebers optimale Auflösung von Interessenkonflikten, dessen wesentlicher Kern Schutz vor Änderungen durch Formularvertragsbedingungen verdient. Dies gilt insbesondere, wenn die Regelung nicht nur auf Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten beruht, sondern eine Ausprägung des Gerechtigkeitsgebots darstellt. In ihrem unmittelbaren Anwendungsbereich hat die Vorschrift angesichts des überwiegend zwingenden Charakters arbeitsrechtlicher Vorschriften keine große Bedeutung. Relevanz erlangt sie z.B. für die Bemessung der Länge von vertraglichen Ausschlussfristen (vgl. dazu Rdn 615). Die Vorschriften des gesetzlichen Verjährungsrechts bilden dort die maßgebliche "gesetzliche Regelung". Größeres Gewicht erhält § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB im Arbeitsrecht dadurch, dass auch die von der Rechtsprechung entwickelten ungeschriebenen Rechtssätze sowie allgemein anerkannte Rechtsgrundsätze unter das Merkmal der "gesetzlichen Regelung" subsumierbar sind. Zu letzteren zählt z.B. der Grundsatz "pacta sunt servanda". Ein Kontinuitätsgebot zugunsten bisheriger Rechtsprechung folgt daraus nicht: Zum einen findet Richterrecht nicht insgesamt, sondern nur sein "wesentlicher Grundgedanke" nach der Schuldrechtsreform Berücksichtigung. Zum anderen ist es nicht länger alleiniger Kontrollmaßstab; die Vermutungswirkung des § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB kann durch eine Gesamtwürdigung aller Umstände widerlegt werden. Dabei ist das Interesse des Arbeitgebers an der Aufrechterhaltung der Klausel mit dem Interesse des Arbeitnehmers an der Ersetzung der Klausel durch das Gesetz abzuwägen.
Rz. 193
Eine unangemessene Benachteiligung liegt nach § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB im Zweifel auch dann vor, wenn wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrages ergeben, so eingeschränkt werden, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist. Dies ist z.B. bei Freistellungsklauseln anzunehmen, die dem Arbeitgeber die jederzeitige Freistellung des Arbeitnehmers auch im ungekündigten Arbeitsverhältnis gestatten.
Rz. 194
Den letzten Prüfungsschritt der AGB-Kontrolle bildet die allgemeine Angemessenheitskontrolle gem. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB. Unwirksam ist eine Klausel danach, wenn sie den Arbeitnehmer entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt. Das BAG bejaht eine solche Benachteiligung dann, wenn der Arbeitgeber durch einseitige Vertragsgestaltung missbräuchlich eigene Interessen auf Kosten des Arbeitnehmers durchzusetzen versucht, ohne von vornherein auch dessen Belange hinreichend zu berücksichtigen und ihm einen angemessenen Ausgleich zuzugestehen. Hinter dieser Formel verbirgt sich ein dreistufiges Prüfungsprogramm. Zunächst muss ein rechtlich anerkanntes Interesse des Arbeitnehmers festgestellt werden. Dieses muss anschließend durch die Verwendung der Klausel im Arbeitsvertrag beeinträchtigt werden. Schließlich darf die Beeinträchtigung nicht durch begründete und billigenswerte Interessen des Arbeitgebers gerechtfertigt sein oder durch gleichwertige Vorteile ausgeglichen werden. Letzteres ist anhand einer umfassenden Interessenabwägung zu beurteilen, die den Kernpunkt der Prüfung des § 307 BGB bildet. Für diese kann man sich als Leitbild an der Frage orientieren, ob die vertragliche Regelung noch Ausdruck einer ausgewogenen Vertragsgestaltung ist. Verschiedene Kriterien können dafür von Belang sein. Von Bedeutung sind vor allem die Art des Arbeitsvertrages, die damit verbundene Stellung des Arbeitnehmers, die sachgerechte Verteilung des Betriebs-, Wirtschafts- und Beschäftigungsrisikos, grundrechtliche Wertungen sowie eine mögliche Einschränkung des Rechts zur freien Kündigung. Zu berücksichtigen ist ebenfalls, ob eine Klausel im Rahmen der Anbahnung des Arbeitsverhältnisses oder anlässlich einer späteren Vertragsänderung vereinbart worden ist; im letzteren Fall ist der Arbeitnehmer weniger schutzwürdig. Der Arbeitsvertrag ist auch in seiner Gesamtheit zu würdigen. Dabei sind summierende und kompensierende Effekte zu beachten.
Rz. 195
Bei der Prüfung ist ein genereller, typisierender, d.h. vom Einzelfall losgelöster Maßstab anzulegen. Unerheblich ist, ob der Arbeitnehmer deshalb durch die Verwendung der Klausel unangemessen benachteiligt wird, weil sie gerade seiner Interessenlage nicht entspricht. Es sind allein die "ty...