Martin Brock, Dr. Katja Francke
Rz. 869
Der Grundsatz, dass Schweigen im Rechtsverkehr keine rechtsgeschäftliche Willenserklärung darstellt, gehört zu den wesentlichen Prinzipien des Schuldrechts. Von diesem Grundsatz wird abgewichen, wenn dem tatsächlichen Verhalten eines Vertragspartners ein bestimmter Erklärungswert zugewiesen wird, so dass entsprechenden Vereinbarungen in Formularverträgen durch § 308 Nr. 5 BGB enge Grenzen gesetzt sind. Regelungen, die die Abgabe oder Nichtabgabe einer Erklärung des Vertragspartners fingieren, wenn dieser eine bestimmte Handlung vornimmt oder unterlässt, sind demgemäß in Formularverträgen nur wirksam, wenn sich der Arbeitgeber bereits in der Vertragsklausel verpflichtet hat, den Arbeitnehmer mit Fristbeginn auf die Bedeutung seines Verhaltens gesondert hinzuweisen. Doch auch dann tritt die Fiktion nur ein, wenn der Hinweis auf die Fiktionswirkung tatsächlich erteilt und dem Arbeitnehmer überdies eine angemessene Frist zur Abgabe einer ausdrücklichen Erklärung eingeräumt worden ist.
aa) Vereinbarung der Fiktionswirkung
Rz. 870
Die Begründung einer Fiktionswirkung muss durch zweiseitigen Vertrag erfolgen; sie kann ohne entsprechende arbeitsvertragliche Regelung nicht einseitig vom Arbeitgeber hergestellt werden. Denkbar wäre eine einseitige Fiktionsbegründung etwa bei der Erteilung einer Abmahnung oder bei der Information über einen Betriebsübergang gem. § 613a BGB, bei dem ein endgültiger Verzicht auf das Widerspruchsrecht nach Ablauf einer bestimmten Zeit fingiert werden könnte. In diesen Fällen fehlt es jedoch an einer vertraglichen Grundlage, ohne die die Fiktionswirkung nicht eintreten kann. Der nicht von einer entsprechenden Vereinbarung getragene Hinweis auf eine Fiktionswirkung entfaltet daher keine rechtlichen Wirkungen. Insbesondere die Erklärungsfiktion bei Erteilung einer Abmahnung kann allerdings entsprechend dem vorstehenden Muster vorsorglich in den Arbeitsvertrag aufgenommen werden; durch einen deutlichen Hinweis auf die Fiktionswirkung in dem Abmahnungsschreiben ist dann den Anforderungen des § 308 Nr. 5 BGB Genüge getan.
bb) Hinweis auf die Fiktionswirkung
Rz. 871
Der Hinweis auf die Fiktionswirkung muss in einer Form erfolgen, die unter normalen Umständen eine Kenntnisnahme durch den Arbeitnehmer erwarten lässt. Ist die Fiktionswirkung im Arbeitsvertrag vereinbart, unterlässt der Arbeitgeber allerdings bei Fristbeginn den gesonderten Hinweis, ist die Klausel zwar wirksam, die Fiktionswirkung tritt jedoch nicht ein.
cc) Angemessenheit der Erklärungsfrist
Rz. 872
Der Eintritt der Fiktionswirkung setzt schließlich voraus, dass dem Arbeitnehmer eine angemessene Frist zur Abgabe einer ausdrücklichen Erklärung eingeräumt wird. Die erforderliche Länge einer als angemessen anzusehenden Frist richtet sich nach dem Inhalt der jeweiligen Regelung. Ausgehend davon, dass dem Arbeitnehmer einerseits eine ausreichende Zeitspanne zur Überlegung und Erklärung zugebilligt werden muss, dass andererseits aber im Arbeitsrecht kurze Fristen zur Rechtswahrung üblich und auch vom Gesetz selbst in zahlreichen Regelungen vorgesehen sind, dürfte in Anlehnung an § 4 KSchG in vielen Fällen eine Frist von drei Wochen erforderlich aber auch ausreichend sein. Entscheidend ist, innerhalb welchen Zeitraums nach der Verkehrsanschauung ein Widerspruch berechtigterweise erwartet werden kann. Dieser Anforderung ist in den vorstehenden Beispielen genügt.
dd) Inhaltliche Angemessenheit der Fiktionsvereinbarung
Rz. 873
Die Einhaltung der Anforderungen des § 308 Nr. 5 BGB an eine formularmäßige Erklärungsfiktion führt allerdings nicht dazu, dass die betreffende Klausel keiner weitergehenden Inhaltskontrolle mehr unterliegt. Insbesondere die inhaltliche Angemessenheit gem. § 307 BGB bedarf der Überprüfung; Regelungen, die aufgrund ihrer inhaltlichen Unangemessenheit formularmäßig nicht wirksam vereinbart werden können, lassen sich auch nicht im Wege der Erklärungsfiktion in den Vertrag einbeziehen.
Rz. 874
Erforderlich ist deshalb, dass der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse an der Vereinbarung einer Erklärungsfiktion hat. Im Zivilrecht wird ein solches Interesse insbesondere im Bereich der Massenverwaltung bejaht. Ein vergleichbares Interesse ist auch im Arbeitsrecht anzuerkennen, wenn etwa der Arbeitgeber im Wege der Erklärungsfiktion neue Arbeitsbedingungen für eine größere Zahl von Arbeitnehmern umsetzen will; in diesem Fall entspringt die Erklärungsfiktion angesichts der Vielzahl der zu behandelnden Fälle einem berechtigten organisatorischen Bedürfnis, dies...