Martin Brock, Dr. Katja Francke
Rz. 198
Bei der Anwendung des AGB-Rechts auf Arbeitsverträge sind gem. § 310 Abs. 4 S. 2 BGB die "im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten" angemessen zu berücksichtigen. Diese Vorschrift bewirkt eigene, genuin arbeitsrechtliche Ergebnisse bei der Kontrolle vorformulierter Arbeitsvertragsbedingungen.
(1) Geltungsbereich des § 310 Abs. 4 S. 2 BGB
Rz. 199
Die Vorschrift ist bei allen Formulararbeitsverträgen ungeachtet ihrer rechtlichen Ausgestaltung im Einzelfall sowie bei sämtlichen Bestimmungen der §§ 305 ff. BGB zu beachten. Eine Beschränkung auf spezifische Bereiche des Arbeitsrechts, wie den kirchlichen Bereich oder auf befristete Arbeitsverhältnisse, findet nicht statt. Ebenso wenig machen arbeitsrechtliche Besonderheiten vor den Klauselverboten "ohne Wertungsmöglichkeit" des § 309 BGB Halt. Die amtliche Überschrift des § 309 BGB enthält nur den Hinweis an den Richter, dass die besonderen Umstände des Einzelfalls keine zusätzliche Wertungsinstanz eröffnen.
(2) Konkretisierung der arbeitsrechtlichen Besonderheiten
Rz. 200
Arbeitsrechtliche Besonderheiten sind nach Ansicht des BAG im Vergleich zu den Grundsätzen des Bürgerlichen Rechts und des Prozessrechts abweichende Regelungen. Hinter dieser Aussage verbergen sich mehrere, zum Verständnis dieser Vorschrift wichtige, Interpretationshilfen. Zum einen sind damit nicht nur solche Normen erfasst, die ihren ausschließlichen Anwendungsbereich im Arbeitsrecht haben, sondern ebenfalls solche, die auch außerhalb des materiellen Arbeitsrechts, etwa im Dienstvertragsrecht, Anwendung finden. Arbeitsrechtliche Besonderheiten sind damit nicht exklusiv zu verstehen. Es reicht, wenn die entsprechende Norm "auch" eine Besonderheit des Arbeitsrechts ist. Das soll dann der Fall sein, wenn sich die Anwendung der Norm besonders auf dem Gebiet des Arbeitsrechts auswirkt. Dies hat das BAG für den in § 888 Abs. 3 ZPO normierten Ausschluss der Vollstreckbarkeit der Arbeitsleistung bejaht, denn im Wesentlichen begründe diese Regelung nur im Arbeitsrecht die Schutzlosigkeit des Dienstberechtigten. Ebenso ist das verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen auch eine arbeitsrechtliche Besonderheit.
Rz. 201
Besonderheiten des Arbeitsrechts können nicht nur rechtlicher, sondern auch tatsächlicher Natur sein. Das BAG subsumiert selbst "tatsächliche Besonderheiten des Arbeitslebens" unter den Wortlaut des § 310 Abs. 4 S. 2 BGB. Diese erblickt es z.B. in der "seit langem … im Arbeitsleben anerkanntermaßen besonders gebotenen raschen Klärung von Ansprüchen und der Bereinigung offener Streitpunkte". Tatsächliche Besonderheiten bemüht das Gericht ebenfalls, wenn es im Rahmen der Bestimmung der angemessenen Länge einer arbeitsvertraglichen Ausschlussfrist auf eine Reihe kurzer gesetzlicher und tarifvertraglicher Fristen verweist. Denn es ist nicht die einzelne – rechtliche – Fristbestimmung, die das Gericht als Besonderheit seiner Entscheidung zugrunde legt, sondern es sind sämtliche kurze Ausschlussfristen "in ihrer Gesamtheit". Angesprochen sind damit die weite Verbreitung bzw. die Üblichkeit entsprechender Fristbestimmungen und damit tatsächliche Umstände. Bei Rückzahlungsklauseln soll das Prognoserisiko des Arbeitgebers im Hinblick auf die Schwierigkeiten, einzelne Aus- und Fortbildungsmaßnahmen zu bewerten, eine arbeitsrechtliche Besonderheit sein, die zur Aufrechterhaltung der Klausel mit kürzerer Bindungsdauer führen kann.
Rz. 202
Auch Richterrecht ist Arbeitsrecht. Seine prinzipielle Berücksichtigung als arbeitsrechtliche Besonderheit ist deswegen weitgehend anerkannt. Wie weit dieser Grundsatz trägt, ist derweil allerdings noch umstritten. Ein Urteil allein, hierüber scheint Übereinkunft erzielt, schafft noch keine im Rahmen des § 310 Abs. 4 S. 2 BGB zu berücksichtigende arbeitsrechtliche Besonderheit. Es kommt vielmehr darauf an, ob tatsächlich Richterrecht vorliegt. Die klassischen Fallgestaltungen des Arbeitsrechts, z.B. die Arbeitnehmerhaftung, die Betriebsrisikolehre sowie die Rückzahlung von Ausbildungskosten, wird man hierzu zumindest zu rechnen haben. Ein Gebot zur Beibehaltung der von der bisherigen Rechtsprechung entwickelten Lösungsansätze folgt hieraus nicht.