Dr. Marion Bernhardt, Stefan Fischer
1. Allgemeines
Rz. 166
Die Anfechtung ist gerichtet auf eine einseitige Beseitigung des Arbeitsvertrags. Der die Anfechtung Erklärende will sich aufgrund eines Willensmangels bei Abgabe seiner Erklärung von deren Rechtsfolgen befreien. Die Anfechtung kann wegen Inhalts- oder Erklärungsirrtums (§ 119 Abs. 1 BGB), Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft (§ 119 Abs. 2 BGB), oder wegen Drohung bzw. arglistiger Täuschung erklärt werden (§ 123 BGB). Zum Zeitpunkt der Anfechtung muss der Anfechtungsgrund noch gegeben sein. Er darf zu diesem Zeitpunkt ferner seine Bedeutung für die weitere Durchführung des Arbeitsverhältnisses nicht verloren haben. Die Anfechtung ist formlos möglich und erfordert keine vorherige Anhörung eines etwa gebildeten Betriebsrats. Da es sich um eine einseitige Willenserklärung handelt, ist bei ihrer Abgabe durch einen Vertreter ebenso wie bei einer Kündigungserklärung § 174 BGB zu beachten.
Rz. 167
Zur Anfechtung wegen Inhalts- oder Erklärungsirrtums ist berechtigt, wer sich bei Abgabe der Willenserklärung über deren Inhalt geirrt hat oder eine Erklärung dieses Inhalts gar nicht abgeben wollte (§ 119 Abs. 1 BGB). Ein Motivirrtum ist unbeachtlich. Praktisch bedeutsam ist die Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB, also wegen eines Irrtums über Eigenschaften, die für die Beurteilung der Eignung des Arbeitnehmers für seine Tätigkeit relevant sind. Seit Inkrafttreten des AGG müssen hierbei auch die Wertungen dieses Gesetzes berücksichtigt werden. Damit wird, soweit nicht im Einzelfall eine Rechtfertigung über die §§ 8–10 AGG in Betracht kommt, eine Anfechtung wegen eines Umstands, der mit einem Merkmal des § 1 AGG in Zusammenhang steht, ausscheiden. Ein Irrtum über eine Schwangerschaft ist danach nicht relevant, und zwar auch dann nicht, wenn die schwangere Arbeitnehmerin bei einer wegen Schwangerschafts- oder Urlaubsvertretung nur für kurze Zeit befristeten Beschäftigung wegen der Beschränkungen des MuSchG für erhebliche Zeit ausfällt. Die Krankheit eines Mitarbeiters kann eine verkehrswesentliche Eigenschaft darstellen, wenn dem Arbeitnehmer infolgedessen bereits bei Abschluss des Arbeitsvertrages die Fähigkeit fehlt, die vertraglich vereinbarten Arbeitsaufgaben auszuführen. Eine Gleichsetzung von Krankheit und Behinderung i.S.d. AGG hat der EuGH abgelehnt. Eine allein auf eine Schwerbehinderung gestützte Anfechtung dürfte nach Inkrafttreten des AGG aber in der Regel ausscheiden. Vorstrafenfreiheit ist an sich ebenfalls keine verkehrswesentliche Eigenschaft. Eine Vorstrafe kann jedoch, wenn sie einen Bezug zu der vorgesehenen Tätigkeit hat, Rückschlüsse auf das Fehlen bestimmter Persönlichkeitsmerkmale oder Eigenschaften haben, deren Fehlen dann im Irrtumsfall zur Anfechtung berechtigt.
Rz. 168
Die Anfechtung wegen Irrtums ist gemäß § 121 Abs. 1 BGB unverzüglich zu erklären. Sie ist noch unverzüglich, wenn sie innerhalb von zwei Wochen ab Kenntnis der für die Anfechtung maßgeblichen Tatsachen erklärt wird.
Rz. 169
Zur Anfechtung berechtigt ferner eine arglistige Täuschung, die für den Abschluss des Arbeitsvertrages ursächlich war (§ 123 Abs. 1 BGB). Täuschung ist jedes Verhalten, durch das eine unrichtige Vorstellung über Tatsachen erregt, bestärkt oder aufrechterhalten wird. Das ist der Fall, wenn ein Arbeitnehmer im Rahmen der Einstellung eine zulässige Frage bewusst wahrheitswidrig beantwortet. Die Zulässigkeit einer Frage, an deren Beantwortung der Arbeitgeber ein berechtigtes und schutzwürdiges Interesse hat, ist dabei auch an den Maßstäben des AGG zu messen. Bei unzulässigen Fragen hat der Arbeitnehmer demgegenüber ein Recht zur Lüge, das eine Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB ausschließt. Andererseits kann ein Arbeitgeber ausnahmsweise auch dann zur Anfechtung wegen arglistiger Täuschung berechtigt sein, wenn ein Arbeitnehmer nach Treu und Glauben verpflichtet ist, eine Tatsache ungefragt zu offenbaren, deren Vorliegen er bewusst verschweigt. Hiervon ist aber z.B. nicht auszugehen, wenn ein Arbeitnehmer im Einstellungsgespräch nicht offenbart, dass er sich noch in einem ungekündigten anderen Arbeitsverhältnis befindet, und diesen Arbeitsvertrag unter Berücksichtigung der insoweit maßgeblichen Kündigungsfristen nicht mehr bis zum vorgesehenen Arbeitsbeginn der neuen Tätigkeit beenden kann. Eine Anfechtung wegen widerrechtlicher Drohung kommt in Betracht, wenn der Anfechtende hierdurch zur Abgabe seiner Willenserklärung bestimmt wurde. Eine widerrechtliche Drohung liegt vor, wenn der Anfechtungsgegner ein zukünftiges Übel in Aussicht stellt, dessen Eintritt – jedenfalls nach der Vorstellung des Anfechtenden – vom Willen des Drohenden abhängt. Dieser Anfechtungsgrund hat in der Praxis bei Abschluss von Arbeitsverträgen keine Bedeutung.
Rz. 170
Die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung oder widerrechtlicher Drohung muss binnen Jahresfrist ab Kenntniserlangung erfolgen (§ 124 Abs. 1 BGB).