Rz. 86
Bleibt auch nach einer an den vorstehend beschriebenen Grundsätzen orientierten Auslegung ein nicht behebbarer Zweifel über den genauen Inhalt der Klausel, kommt die sog. Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB zum Tragen. Diese bestimmt, dass etwaige Zweifel bei der Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen zulasten des Verwenders gehen. Hintergrund dieser Regelung ist die Überlegung, dass derjenige, der die Macht hat, die Formulierung eines Vertragstextes zu bestimmen, nicht nur die damit verbundenen Vorteile genießen, sondern auch die Nachteile tragen soll, die sich aus mehrdeutigen Bestimmungen ergeben können.
Rz. 87
Eine Anwendung des § 305c Abs. 2 BGB setzt voraus, dass die Auslegung einer Klausel in AGB mindestens zwei Auslegungsergebnisse als vertretbar erscheinen lässt und keines dieser Ergebnisse einen klaren Vorzug verdient. Es müssen erhebliche Zweifel an der richtigen Auslegung bestehen. Die entfernte Möglichkeit, zu einem anderen Auslegungsergebnis zu kommen, genügt für eine Anwendung der Unklarheitenregel nicht.
Widersprechen sich dagegen zwei Regelungen, so ist dies nach Auffassung der Rechtsprechung kein Anwendungsfall des § 305c BGB. Das BAG geht in solchen Fällen vielmehr davon aus, dass die sich widersprechenden Bestimmungen schon wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB unwirksam sein können.
Rz. 88
In der Rechtsfolge führt § 305c Abs. 2 BGB dazu, dass der Verwender der AGB die für ihn ungünstigste Auslegungsmöglichkeit gegen sich gelten lassen muss, weshalb insoweit auch vom Grundsatz der "arbeitnehmerfreundlichen" Auslegung die Rede ist. Zu Wertungswidersprüchen kann dieses Vorgehen allerdings gerade bei den Arbeitnehmer belastenden Regelungen dann führen, wenn eine der beiden Auslegungsvarianten gegen die §§ 307 ff. BGB verstößt und die Aufrechterhaltung der Klausel unter Zugrundelegung der arbeitnehmerfreundlichsten Auslegung dazu führen würde, dass sie in ihrer rechtlich noch tragbaren Variante "gerettet" würde, was einer im Rahmen der §§ 305 ff. BGB an sich verbotenen geltungserhaltenden Reduktion im Ergebnis gleich- oder zumindest nahekäme.
Rz. 89
Um ein solches Ergebnis zu vermeiden, greift die Rechtsprechung bisweilen zu einer "umgekehrten" Anwendung der Unklarheitenregel, wenn letztlich die Unwirksamkeit einer den Arbeitnehmer belastenden Klausel das für diesen günstigste Ergebnis darstellen würde. Es wird dann in einem ersten Schritt die Frage gestellt, ob eine der beiden Auslegungsvarianten – die "arbeitnehmerfeindlichste" Variante – zur Unwirksamkeit der Klausel gemäß §§ 307 ff. BGB führt. Ist dies der Fall, ist die (nur scheinbar) arbeitnehmerfeindlichste Auslegung maßgeblich für das Verständnis der Klausel, wobei sich in einem zweiten Schritt dann jedoch die vermeintlich arbeitnehmerfeindliche Auslegung im Ergebnis wegen der Rechtsfolge der Unwirksamkeit als die in Wahrheit für den Arbeitnehmer günstigere Auslegungsvariante entpuppt. Ist dagegen die Klausel in beiden Auslegungsvarianten grds. wirksam, so ist in Anwendung der Unklarheitenregel des § 305c BGB der arbeitnehmerfreundlichsten Variante den Vorzug zu geben. Mit Blick auf die hier vorgeschlagene Prüfungsreihenfolge ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass der vorgenannte Gedankengang natürlich zu einer (nötigen) Durchbrechung dieses Schemas führt, weil Unklarheitenregel und Wirksamkeitsprüfung hierdurch in Wechselwirkung zueinander gesetzt werden.