Rz. 69
Im einem vierten Prüfungsschritt ist § 305b BGB zu berücksichtigen: Danach haben individuelle Vertragsabreden stets Vorrang vor Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Diese Aussage deckt sich bereits mit allgemeinen Grundsätzen, nach denen eine konkrete, recht speziell auf den einzelnen Fall zugeschnittene Regelung ebenfalls Vorrang vor allgemeineren, formularmäßig vorgehaltenen Vertragsabreden hätte. Das BAG spricht insoweit von einem "funktionellen Rangverhältnis" zwischen Individualabrede und AGB.
1. Begriff der Individualabrede
Rz. 70
Unter den Begriff der Individualabrede i.S.d. § 305b BGB sind zunächst solche Abreden zu fassen, die i.S.v. § 305 Abs. 1 S. 3 BGB individuell ausgehandelt wurden. Wie bereits dargelegt, sind allerdings recht strenge Voraussetzungen an ein "Aushandeln" i.S.d. § 305 Abs. 1 S. 3 BGB zu stellen. Insbesondere verlangt die Rechtsprechung, dass der Verwender den gesetzesfremden Kerngehalt der maßgeblichen Vertragsregelungen ernsthaft zur Disposition stellt und dem Verwendungsgegner so Gestaltungsfreiheit zur Wahrung seiner Interessen eingeräumt wird. Diese Voraussetzungen werden in der Praxis oftmals nicht erfüllt sein.
Rz. 71
Über die nach § 305 Abs. 1 S. 3 BGB "ausgehandelten" Regelungen hinaus erfasst § 305b BGB allerdings auch sonstige Abreden der Parteien, die vom Inhalt der vorformulierten Vertragsbedingungen abweichen. Es ist nach h.M. auch irrelevant, in welcher Form solch individuelle Vertragsabreden vereinbart werden. Individualvereinbarungen i.S.d. § 305b BGB können schriftlich, mündlich oder auch lediglich stillschweigend geschlossen werden. Neben der Form ist im Übrigen auch der Zeitpunkt des Zustandekommens der Individualabrede nicht relevant für die Frage ihres Vorrangs. Eine Individualvereinbarung i.S.d. § 305b BGB kann vor, gleichzeitig mit oder auch nach Einbeziehung der kollidierenden AGB in den Vertrag verabredet werden.
Rz. 72
Arbeitsbedingungen, die Gegenstand einer betrieblichen Übung oder einer Gesamtzusage sind, stellen keine Individualabrede i.S.d. § 305b BGB dar, weil es sich hierbei um kollektive, für die gesamte oder zumindest Teile der Belegschaft geltende Regelungen und gerade nicht um individuelle Vereinbarungen handelt.
2. Verhältnis der Individualabrede zu vorformulierten Einmalbedingungen
Rz. 73
Auch wenn es sich hierbei mangels beabsichtigter Mehrfachverwendung an sich nicht um Allgemeine Geschäftsbedingungen handelt, sind jedenfalls Teile der § 305 ff. BGB im Falle eines Verbrauchervertrags nach § 310 Abs. 3 BGB auch auf sog. vorformulierte Einmalbedingungen anzuwenden, die nur zu einmaligen Verwendung bestimmt sind und auf deren Inhalt der Verbraucher (d.h. der Arbeitnehmer) aufgrund der Vorformulierung keinen Einfluss nehmen konnte (vgl. § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB). Da das BAG in der Tat davon ausgeht, dass ein Arbeitnehmer bei Abschluss von Verträgen mit seinem Arbeitgeber regelmäßig als Verbraucher handelt, stellen arbeitsvertragliche Vereinbarungen regelmäßig einen solchen Verbrauchervertrag dar. Nach h.M. gilt damit auch im Fall vorformulierter Einmalbedingungen der Vorrang der Individualabrede: Obwohl § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB gerade nicht auf § 305b BGB verweist, soll nämlich die in § 305b BGB vorgesehene Vorrangregelung auch für das Verhältnis einer Individualabrede zu vorformulierten Einmalbedingungen gelten. Auch hier setzt sich also die konkretere Individualvereinbarung durch.
3. § 305b BGB als Kollisionsregel
Rz. 74
Bei dem in § 305b BGB gesetzlich geregelten Vorrang der Individualabrede handelt es sich um eine Kollisionsregel, die als Rechtsfolge eine Verdrängung Allgemeiner Geschäftsbedingungen bzw. vorformulierter Einmalbedingungen durch individuelle Vertragsabreden vorsieht.
Von Bedeutung ist diese Kollisionsregel insoweit, als die Parteien individuell eine den vorformulierten Regelungen widersprechende Abrede treffen. M.a.W.: Nur soweit die Individualabrede von den AGB-Regelungen abweicht, setzt sie sich nach § 305b BGB diesen gegenüber durch.
Um genau zu bestimmen, ob und in welchem Umfang sich die Regelungen widersprechen und damit die Kollisionsregel des § 305b BGB zu einer Verdrängung führt, ist einerseits der Inhalt der Individualabrede und andererseits der Inhalt der AGB bzw. vorformulierten Einmalbedingungen durch Auslegung zu ermitteln. Soweit sich die Regelungen widersprechen, ist allein auf die dann vorrangige Individualvereinbarung abzustellen. Unbeachtlich ist, ob sich die Vertragsparteien der Abweichung bewusst sind oder ob diese gewollt ist.
Rz. 75
Klarzustellen ist...