Dr. Jörg Kraemer, Frank-Michael Goebel
Rz. 325
Bevor die Zwangsvollstreckung durch den Gläubiger eingeleitet werden darf, muss der Vollstreckungstitel dem Schuldner förmlich zugestellt worden sein oder bei Beginn der Vollstreckung zugestellt werden. Dies soll dem Schuldner noch einmal vor Augen führen, dass die Zwangsvollstreckung unmittelbar bevorsteht und er dieser nur entgehen kann, wenn er die Vollstreckungsforderung sofort befriedigt. Zugleich wird sichergestellt, dass der Schuldner vom Inhalt seiner Verpflichtung nochmals Kenntnis nimmt.
Rz. 326
Die gleichzeitige Zustellung kommt allerdings nur bei der Gerichtsvollziehervollstreckung in Betracht. Die Zustellung des Titels besteht nach § 166 ZPO in der beurkundeten Übergabe einer Ausfertigung oder beglaubigten Abschrift des Titels. Über die gesetzliche Legaldefinition der Bekanntgabe hinaus hat die Zustellung allerdings die Wirkung, auch den Zeitpunkt der Bekanntgabe festzuhalten. Dies stellt sich als wesentliche Grundlage für Fristberechnungen dar. Die Zustellung eines Urteils von Amts wegen nach § 317 ZPO bewirkt also einerseits den Lauf der Berufungsfrist, andererseits begründet diese Zustellung eine der allgemeinen Voraussetzungen für die Zwangsvollstreckung i.S.v. § 750 ZPO.
Rz. 327
Wer für die Zustellung verantwortlich ist, d.h. ob diese von Amts wegen veranlasst wird oder durch die Parteien zu veranlassen ist, muss im Einzelfall festgestellt werden.
Rz. 328
Hinweis
Während der Vollstreckungstitel in der Regel von Amts wegen zugestellt wird (etwa § 699 Abs. 4 S. 1 ZPO für den Vollstreckungsbescheid), ist der Pfändungs- und Überweisungsbeschluss im Parteiwege zustellen (§ 829 Abs. 2 ZPO).
Rz. 329
Keine Zustellung ist erforderlich:
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bei der Vorpfändung nach § 845 ZPO. Die Zustellung ist nachzuholen durch Pfändung der Forderung innerhalb eines Monats und einer damit verbundenen Zustellung des Titels; |
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bei Arrestbefehlen (§ 929 Abs. 3 ZPO) und einstweiligen Verfügungen (§ 936 i.V.m. § 929 Abs. 3 ZPO). Zu beachten ist jedoch die Unzulässigkeit der Vollziehung, wenn nach Verkündung mehr als ein Monat verstrichen ist (§ 929 Abs. 2 ZPO). Es besteht jedoch die Pflicht, innerhalb einer Woche nach Vollziehung die Zustellung nachzuholen (§ 929 Abs. 3 S. 2 ZPO); |
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zur fristwahrenden Vollziehung einer einstweiligen Verfügung ist im Regelfall die Zustellung im Parteibetrieb erforderlich. Dies gilt für die Beschluss- und für die Urteilsverfügung. Die Verfügung muss die Androhung des Ordnungsmittels nach § 890 Abs. 2 ZPO enthalten; |
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wenn der Eigentümer eines mit einer Hypothek, einer Grundschuld oder einer Rentenschuld Grundstücks, sich in einer nach § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO aufgenommenen Urkunde der sofortigen Zwangsvollstreckung unterworfen hat, muss der Rechtsnachfolger des Gläubigers in Abweichung zu § 750 Abs. 2 ZPO keine Neuzustellung im Falle der Zwangsvollstreckung vornehmen (§ 799 ZPO). |
Rz. 330
Ein Verzicht auf die vorherige Zustellung – z.B. in einer notariellen Urkunde – ist nach h.M. unwirksam. Die allgemeinen Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung stehen nicht zur Disposition der Parteien. Allerdings kann der Schuldner nachträglich auf das Erfordernis der Zustellung verzichten, da dieser Fall nicht anders zu behandeln ist als eine fehlerhafte Zustellung, wenn der Schuldner auf Rechtsmittel verzichtet. Ein anderer Teil stellt darauf ab, dass die Zustellung allein dem Schutz des Schuldners diene, sodass er auf diesen Schutz auch – vorher wie nachträglich – verzichten könne.
Rz. 331
Auch in Familiensachen ist die Zustellung des Titels (§ 87 Abs. 2 FamFG) entweder vor Einleitung der Zwangsvollstreckung oder gleichzeitig erforderlich. Eine Ausnahme besteht für die einstweilige Anordnung: Das Gericht kann gemäß § 53 Abs. 2 FamFG in Gewaltschutzverfahren und sonstigen Verfahren, in denen hierfür ein besonderes Bedürfnis besteht, anordnen, dass die Vollstreckung vor Zustellung zulässig ist. Die einstweilige Anordnung wird dann bereits mit Erlass wirksam. Entsprechendes gilt gemäß §§ 209 Abs. 3, 216 Abs. 2 FamFG für die Hauptsacheverfahren in Ehewohnungs- und Gewaltschutzsachen. Der Titel ist spätestens mit Beginn der Vollstreckung zuzustellen, und zwar förmlich. Beschlüsse werden gemäß § 41 FamFG von Amts wegen zugestellt, Vergleiche und vollstreckbare Urkunden dagegen durch die Beteiligten. § 15 FamFG regelt die Bekanntgabe der Entscheidung durch Zustellung und verweist dabei auf die allgemeinen Regeln (§§ 166 bis 195 ZPO). Nach § 15 Abs. 2 FamFG gilt das Schriftstück drei Tage nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, wenn nicht der Beteiligte glaubhaft macht, dass ihm das Schriftstück nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist.
Rz. 332
Checkliste: Zustellungsadressat
Die Zustellung erfolgt an den richtigen Zustellungsadressaten, der allerdings auch einen Zustellungsbevollmächtigen, den Empfänger haben kann:
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Dies ist grundsätzlich der Schuldner, und wenn dieser einen Prozessbevollmächtigten hat, letzterer (§§ 171, 172 ZPO). Nach § 172 Abs. 1 ZPO ... |