Dr. Jörg Kraemer, Frank-Michael Goebel
Rz. 130
Gesetzessystematisch wird dem Gläubiger in allen in § 708 ZPO genannten Fällen die Zwangsvollstreckung zunächst ohne Bedingung – vorläufig – eröffnet. In den Fällen des § 709 ZPO kann der Gläubiger die Zwangsvollstreckung nur nach Erbringung einer Sicherheitsleistung einleiten, wenn die Anordnung nicht vergessen wurde, was nach §§ 716, 321 ZPO behoben werden kann. Im Falle des § 711 ZPO hat der Schuldner die Möglichkeit, die vorläufig gestattete Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung abzuwenden, wenn der Gläubiger nicht ebenfalls eine Sicherheit leistet.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit erfasst letztlich auch die Kostenentscheidung und hat somit Auswirkungen auf den Kostenfestsetzungsbeschluss nach § 104 ZPO.
a) Urteilsergänzung gem. §§ 716, 321 ZPO
Rz. 131
Ist ein Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit versehentlich unterblieben und befürchtet der Schuldner nunmehr, dass der Gläubiger die Zwangsvollstreckung gegen ihn einleitet, obwohl er beabsichtigt, gegen das Urteil Berufung einzulegen, besteht nach § 716 ZPO die Möglichkeit eines Antrages auf Urteilsergänzung.
Rz. 132
Beispiel
Der Urteilstenor lautet:
„1. |
S wird verurteilt, an G 4.500,00 EUR nebst 5 Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 15.8.2024 zu zahlen. |
2. |
S trägt die Kosten des Verfahrens.“ |
Eine Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit fehlt, obwohl sie angezeigt gewesen wäre.
Rz. 133
Zuständig ist, wie auch in den Fällen des § 321 ZPO, das Gericht, welches das zu korrigierende Urteil erlassen hat. § 716 ZPO verweist an dieser Stelle ausdrücklich auf die Vorschrift des § 321 ZPO.
Rz. 134
Anwendung findet § 716 ZPO in den Fällen:
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in denen über die Vollstreckbarkeitserklärung überhaupt nicht, |
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nicht über die Höhe der Sicherheitsleistung, |
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nicht über die Abwendungsbefugnis des Schuldners oder |
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nicht über einen nach den Vorschriften der §§ 710, 711 S. 3, 712 ZPO gestellten Schutzantrag entschieden wurde. |
Die Entscheidung über die konkrete Höhe der Sicherheitsleistung (diese ist z.B. zu gering bemessen) ist nicht mit § 716 ZPO oder der Erinnerung nach § 732 ZPO anfechtbar.
Rz. 135
Hinweis
Der Antrag ist innerhalb einer Frist von zwei Wochen (§§ 716, 321 Abs. 2 ZPO) bei dem zuständigen Gericht zu stellen.
Rz. 136
Anwaltszwang besteht in den Fällen, in denen das Landgericht das Urteil erlassen hatte.
Grundsätzlich ist eine mündliche Verhandlung erforderlich (§ 321 Abs. 3 ZPO). Es sollte daher angeregt werden, nach § 128 Abs. 2 ZPO zu verfahren, womit der Gegner erfahrungsgemäß einverstanden sein wird.
Rz. 137
Hinweis
Die Tätigkeit des Rechtsanwaltes gehört zum Rechtszug und wird durch die Gebühren der Nr. 3100 ff. VV RVG abgegolten. Wenn der Rechtsanwalt lediglich für den Ergänzungsantrag beauftragt wird, erhält er die Gebühr aus Nr. 3403 VV RVG (0,8). Gerichtsgebühren werden nicht erhoben, wobei sich hinsichtlich der Erstattung dieser Kosten dann die Frage der Notwendigkeit stellt, da auch der ursprüngliche Prozessvertreter mit der Antragstellung beauftragt werden kann.
b) Stellung von Sicherheitsleistung und die Abwendungsbefugnis des Schuldners
Rz. 138
§ 711 ZPO eröffnet dem Schuldner die Möglichkeit, die Zwangsvollstreckung abzuwenden, indem er eine Sicherheitsleistung erbringt, wenn nicht der Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit leistet. § 95 Abs. 1 FamFG verweist insofern auf die ZPO. Im Ergebnis kann der Schuldner den Gläubiger nicht an der Zwangsvollstreckung hindern. Er kann ihn jedoch zur Sicherheitsleistung zwingen und damit sein wirtschaftliches Risiko minimieren (Rückgewährung des vollstreckten Betrages und eines Schadensersatzes), falls das Urteil aufgehoben wird. Die Vorschrift erfasst die Fälle des § 708 Nr. 4–11 ZPO und daher im Wesentlichen:
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Urteile, die im Urkunden- (§ 592 ZPO), Wechsel- (§ 602 ZPO) oder Scheckprozess (§ 605 ZPO) ergangen sind, |
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erstinstanzliche Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt werden (§§ 922, 936 ZPO) oder aufgehoben werden (§§ 925 Abs. 2, 927, 936 ZPO), |
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Urteile der Oberlandesgerichte in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, |
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Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, deren Wert in der Hauptsache 1.250,00 EUR nicht überschreitet (§ 708 Nr. 11 ZPO). |
Rz. 139
Der Tenor würde dann lauten: "Dem Beklagten wird gestattet, die Zwangsvollstreckung des Klägers gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet."
Rz. 140
§ 709 ZPO lässt die vorläufige Vollstreckbarkeit von Urteilen nur gegen Sicherheitsleistung durch den Gläubiger zu, die nicht von der Vorschrift des § 708 ZPO erfasst werden. Dazu gehören insbesondere die Urteile in erstinstanzlichen vermögensrechtlichen Streitigkeiten, die die Wertgrenze des § 708 Nr. 11 ZPO (1.250,00 EUR bzw. 1.500,00 EUR) überschreiten und nicht unter § 708 Nr. 3 bis Nr. 9 ZPO fallen, sowie Urteile in nicht vermögensrechtlichen Streitigkeiten.
Rz. 141
In dem Beispielsfall müsste der Tenor unter 2. daher lauten:
"2. D...