Dr. Jörg Kraemer, Frank-Michael Goebel
Rz. 207
§ 719 Abs. 1 ZPO verweist hinsichtlich der Möglichkeit der Abwendung der Zwangsvollstreckung für bestimmte Titel auf § 707 ZPO. Auch hier hat der Schuldner die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen mit einem entsprechenden Antrag die Zwangsvollstreckung abzuwenden. § 719 Abs. 1 ZPO gilt für:
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vorläufig vollstreckbare Urteile, gegen die Berufung eingelegt wurde; |
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Urteile des Arbeitsgerichts, gegen die Einspruch oder Berufung eingelegt wurde (§ 62 Abs. 1 ArbGG i.V.m. § 719 ZPO); |
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den Fall, dass sich die Berufung gegen ein Urteil richtet, das einen Arrest oder eine einstweilige Verfügung erlassen oder bestätigt hat (§§ 922 Abs. 1, 925 Abs. 1, 936 ZPO) und nicht für vorläufig vollstreckbar erklärt wurde; |
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den Einspruch gegen einen Vollstreckungsbescheid (§ 700 ZPO); |
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den Einspruch gegen ein Versäumnisurteil (§§ 338 ff., 539 ZPO); |
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in Familiensachen im Falle der Beschwerde über §§ 95 Abs. 3 S. 2, 120 Abs. 2 FamFG. |
aa) Im Fall der Berufung
Rz. 208
Wenn eine Partei gegen das Urteil Berufung einlegt, wird damit der Eintritt der formellen Rechtskraft gehemmt (§ 705 S. 2 ZPO). Dies bedeutet zugleich, dass es grundsätzlich bei der im Tenor ausgesprochenen Vollstreckbarkeit bleibt, die Berufung mithin keine die Vollstreckung aufschiebende Wirkung hat.
Rz. 209
Tipp
Der Rechtsmittelführer sollte daher bereits routinemäßig den Schutzantrag nach § 719 ZPO stellen, wenn er befürchtet, dass der Gläubiger demnächst vollstreckt und damit verbunden ein nicht zu ersetzender Nachteil droht.
Zuständiges Gericht ist das Berufungsgericht als Gericht der Hauptsache.
Rz. 210
Statthaft ist der Antrag, wenn die Berufung statthaft ist und bereits eingelegt wurde. Der Prozesskostenhilfeantrag alleine reicht nicht aus. Das angegriffene Urteil muss für vorläufig vollstreckbar erklärt worden sein (nicht erforderlich bei Arrest oder einstweiliger Verfügung, §§ 922 Abs. 1, 925 Abs. 1 und 936 ZPO). Strittig ist, ob dem Schuldner die einstweilige Einstellung nicht bereits deshalb zu versagen ist, weil er einen möglichen Schutzantrag nach § 712 ZPO in der ersten Instanz nicht gestellt hat.
Nach ständiger Rechtsprechung des BGH gilt, dass die vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus einem vorläufig vollstreckbaren Urteil in der Revisionsinstanz nicht in Betracht kommt, wenn der Schuldner es versäumt hat, im Berufungsrechtszug einen Vollstreckungsschutzantrag gemäß § 712 ZPO zu stellen, obwohl ihm ein solcher Antrag möglich und zumutbar gewesen wäre. Für das Berufungsverfahren kann aber nichts anderes gelten.
Rz. 211
Hinweis
Um dem Grundsatz des sichersten Weges zu folgen, muss bereits in der ersten Instanz die Möglichkeit der Beantragung der Schutzanordnung nach § 712 ZPO überprüft und gegebenenfalls eingeleitet werden. Dies gehört zur ordnungsgemäßen – rechtzeitigen – Vorbereitung der mündlichen Verhandlung.
Rz. 212
Wenn sich der Einstellungsgrund erst nach dem Ende des erstinstanzlichen Verfahrens ergibt, ist der Antrag nach § 719 ZPO nach herrschender Ansicht zulässig.
Rz. 213
Der Antrag ist auch zulässig, wenn der Gläubiger seinerseits nur gegen Sicherheitsleistung vollstrecken kann und der Schuldner die Sicherungsvollstreckung nach § 720a ZPO durch Sicherheitsleistung verhindern will. Darüber hinaus ist die Statthaftigkeit des Antrages auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Schuldner die Sicherheitsleistung geleistet hat, weil er ein Liquiditäts- und Kosteninteresse daran haben darf, die Leistung nach Einstellung der Zwangsvollstreckung zurückzufordern.
Rz. 214
Der Antrag nach § 719 ZPO hat die begehrte Maßnahme näher zu bezeichnen. Die Tatsachen, auf die sich der Antragsteller zur Begründung seines Antrags bezieht, sind glaubhaft zu machen (§ 714 Abs. 2, § 294 ZPO). Im Übrigen gelten die Voraussetzungen des § 707 ZPO, auf die § 719 Abs. 1 ZPO verweist.
Bei seiner Entscheidung wägt das Berufungsgericht zwischen dem Interesse des Gläubigers, den Titel nach erfolgreichem Abschluss der ersten Instanz zügig zu vollstrecken, und dem Interesse des Schuldners an der Abwendung eines nicht zu ersetzenden Nachteils ab. Weiterhin überprüft es inzident die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels.
Rz. 215
Hinweis
Insoweit ist ein Antrag nach § 719 ZPO auch immer eine Option, um die vorläufige rechtliche Einschätzung des Rechtsmittelgerichtes in Erfahrung zu bringen und den eigenen Vortrag darauf zu optimieren.
Rz. 216
Dem Antragsgegner ist vor der Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren. Wie auch bei § 707 ZPO kann das Gericht anordnen, die Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung – als Regelfall – oder ohne Sicherheitsleistung – Anforderungen des § 707 Abs. 1 S. 2 ZPO müssen erfüllt sein – einzustellen.
Rz. 217
Die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus einer durch Urteil erlassenen oder bestätigten einstweiligen Verfügung oder einem Arrest kommt nur ganz ausnahmsweise in Betracht. Ein solcher Ausnahmefall liegt dann vor, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung über den Einstellungsantrag ohne aufwändige Überprüf...