Dr. Jörg Kraemer, Frank-Michael Goebel
Rz. 225
Grundsätzlich gilt für Urteile nach § 709 ZPO und im Falle des § 711 ZPO, der Urteile nach § 708 Nrn. 4–11 ZPO erfasst, dass das Gericht von Amts wegen die vorläufige Vollstreckbarkeit auszusprechen hat. Im Falle des § 709 ZPO kann der Gläubiger die Zwangsvollstreckung aus den dort genannten Urteilen also nur betreiben, wenn er zuvor Sicherheit leistet.
Rz. 226
Sinn und Zweck des § 710 ZPO ist es nun, dem obsiegenden Gläubiger, der die festgesetzte Sicherheit aus wirtschaftlichen Gründen nicht leisten kann, zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse die Zwangsvollstreckung ohne Sicherheitsleistung zu ermöglichen. Eine entsprechende Vorschrift für die in § 711 S. 1 ZPO aufgeführten Urteile – Abwendungsbefugnis des Schuldners, wenn nicht der Gläubiger seinerseits Sicherheit leistet – findet sich in § 711 S. 3 ZPO für die Fälle der §§ 708 Nr. 4–11.
Rz. 227
Zuständig ist das Prozessgericht. Der entsprechende Antrag nach § 710 ZPO ist vor Schluss der letzten mündlichen Verhandlung zu stellen (§ 714 Abs. 1 ZPO), kann aber auch schon mit der Klageschrift gestellt werden. Im Falle der stattgebenden Entscheidung lautet der Tenor entsprechend: "Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar"
Rz. 228
Voraussetzung für die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit eines Urteils ohne Sicherheitsleistung gem. §§ 711 S. 3, 710 ZPO sind (objektiv) ein Leistungshindernis und (subjektiv) Unbilligkeit. Das Leistungshindernis liegt vor bei Unvermögen des Gläubigers oder bei Leistungsfähigkeit nur unter erheblichen Schwierigkeiten.
Voraussetzung für die Begründetheit des Antrages ist in der ersten Alternative das tatsächliche Unvermögen des Gläubigers, die erforderliche Sicherheitsleistung aufzubringen. Dies bedeutet, er hat das erforderliche Geld nicht, kann es auch nicht beschaffen und kann auch keinen tauglichen Bürgen stellen.
Rz. 229
Die zweite Alternative verlangt dagegen nur, dass es für den Gläubiger mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden wäre, die Sicherheitsleistung zu beschaffen und ist ggf. als Hürde leichter zu nehmen. Schwierigkeiten sind gegeben, wenn der Gläubiger durch die Beschaffung der Sicherheitsleistung in seiner Lebenshaltung oder Berufsausübung in unzumutbarer Weise beeinträchtigt wäre.
Beispiel
Ein kleiner Handwerksbetrieb mit einem Angestellten hat neun Monate lang ausschließlich auf einer Großbaustelle gearbeitet. Das Auftragsvolumen betrug 300.000,00 EUR bei einem regelmäßigen Jahresumsatz von ca. 400.000,00 EUR. Da der Auftraggeber nicht bezahlen wollte, musste der Kleinunternehmer Klage bei dem zuständigen Landgericht einreichen. Das Gericht wird der Klage in vollem Umfang stattgeben. Es ist zu befürchten, dass der Auftraggeber Berufung einlegt.
1. Alt.: Die Hausbank des Kleinunternehmers weigert sich, eine Bürgschaftserklärung abzugeben, der Kleinunternehmer kann auch sonst keine Sicherheitsleistung stellen.
2. Alt.: Die Hausbank weigert sich eine Bürgschaftserklärung abzugeben, würde dem Kleinunternehmer jedoch einen Kredit zur Stellung der Sicherheit einräumen. Die zu tilgenden Kreditraten würden dem Kleinunternehmer eine Weiterbeschäftigung seines einzigen Angestellten jedoch unmöglich machen. Bereits angenommene Aufträge könnten nicht erfüllt werden.
In beiden Fällen wäre ein Antrag des Gläubigers erfolgreich.
Rz. 230
Schließlich muss das Abwarten mit der Vollstreckung unbillig sein. Das ist der Fall, wenn:
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dem Gläubiger ein schwer zu ersetzender Nachteil entsteht; |
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oder ein schwer abzusehender Nachteil entsteht; |
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oder der Gläubiger die erstrittene Summe für seinen Lebensunterhalt dringend benötigt; |
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oder sie existentielle Grundlage für seine Erwerbstätigkeit ist. |
Rz. 231
Die oben dargelegten Voraussetzungen sind nach § 714 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen, § 294 ZPO. Taugliches Mittel der Glaubhaftmachung ist insbesondere die schriftliche Bescheinigung des oder der Kreditinstitute über die Weigerung, Sicherungsleistung zu stellen. Die in § 710 ZPO enthaltene Aufzählung ist nicht abschließend. Das Gericht prüft die gesamten Umstände des Einzelfalles, nicht jedoch die Belange des Schuldners. Dieser kann im Rahmen des § 712 ZPO seinerseits einen Schutzantrag stellen. In diesem Zusammenhang erfolgt dann eine Interessenabwägung nach § 712 Abs. 2 ZPO zwischen den Belangen des Schuldners und dem Interesse des Gläubigers an einer zügigen Vollstreckung. Die Entscheidung selbst kann lediglich mit dem Rechtsmittel gegen das Urteil angefochten werden, in dem der Schuldner in der Ausgangsinstanz einen Antrag nach § 712 ZPO und in der Rechtsmittelinstanz sodann nach § 719 ZPO stellt.