a) Rechtsnormen
aa) Historie
Rz. 410
Den rechtlichen Ursprung bildete § 67 II VVG a.F., dessen weitere rechtliche Ausgestaltung durch die zwischenzeitliche Rechtsprechung ab 1.7.1983 dann § 116 VI SGB X begleitend übernahm. § 116 VI SGB X, § 86 III VVG (in Fortführung von § 67 II VVG a.F.) werden – als lediglich stellvertretend gesetzlich fixierter Ausdruck eines im Regressrecht allgemein verankerten Grundsatzes – inhaltlich identisch verstanden und sind wegen ihrer über VVG und SGB hinausreichenden Allgemeingültigkeit wechselwirkend inhaltlich gleich auszulegen (siehe Rn 430 ff.).
Rz. 411
Das Angehörigenprivileg findet unstreitig auch auf Rechtsbereiche Anwendung, für die es – trotz zwischenzeitlicher Gesetzesreformen (EFZG, Beamtenrechtsreform) – an einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung fehlt (z.B. beim beamtenrechtlichen Versorgungsträger und privaten Arbeitgeber) (zu den Einzelheiten siehe Rn 443 ff.).
Rz. 412
Das BVerfG führt zur Historie des Angehörigenprivileges aus:
Rz. 413
Zitat
1. a) Das in § 116 VI SGB X enthaltene sog. "Familien- oder Angehörigenprivileg" geht auf die bereits im Jahre 1910 in Kraft getretene Vorschrift des § 67 II VVG a.F. zurück, die eine vergleichbare Regelung für den Bereich der Privatversicherung vorsah. Zur Begründung verwies der Gesetzgeber damals auf den in der Regel bestehenden engen wirtschaftlichen Zusammenhang zwischen dem Versicherungsnehmer und dem mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen, der dazu führe, dass durch den Rückgriff des Versicherers gegen den Angehörigen meist der Versicherungsnehmer selbst in Mitleidenschaft gezogen werde (BR-Drucksache 1904/130, S. 120; im Entwurf noch § 65 II VVG). Mit der Neufassung des VVG im Jahre 2007 wurde diese Regelung in § 86 III VVG überführt. Dabei hat der Gesetzgeber die Beschränkung des Regressausschlusses auf Familienangehörige gestrichen, weil sie nicht mehr den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen entspreche (BT-Drucksache 16/3945, S. 82). Alleinige Voraussetzung für den Ausschluss der Rückgriffsmöglichkeit ist – im Unterschied zu dem unverändert gebliebenen § 116 VI SGB X – nurmehr das Bestehen einer häuslichen Gemeinschaft zwischen Versicherungsnehmer und Schädiger.
Rz. 414
Zitat
b) Der durch die Einführung des SGB X im Jahre 1983 aufgehobene § 1542 RVO, der den gesetzlichen Forderungsübergang in der Sozialversicherung regelte, wies keine dem § 116 VI SGB X vergleichbare Regelung auf. Jedoch ging der BGH seit seinem Urt. v. 11.2.1964 in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass der Forderungsübergang bei Schädigungen durch Familienangehörige, die in häuslicher Gemeinschaft mit dem geschädigten Sozialversicherten leben, aufgrund des Schutzzwecks der Versicherungsleistung entsprechend § 67 II VVG a.F. ausgeschlossen sei. Anderenfalls führe die Anwendung des § 1542 RVO in diesen Fällen zu einer Schmälerung des Familienunterhalts, sodass die Leistung ihren Versicherungszweck nicht erfülle. § 67 II VVG a.F. wolle einerseits im Interesse der Erhaltung des häuslichen Familienfriedens verhindern, dass gegen Familienangehörige Streitigkeiten über die Verantwortung von Schadenszufügungen ausgetragen werden. Andererseits solle vermieden werden, dass der geschädigte Versicherte durch den Rückgriff auf den Schädiger selbst in Mitleidenschaft gezogen werde. Denn in häuslicher Gemeinschaft zusammenlebende Familienangehörige bildeten zumeist eine gewisse wirtschaftliche Einheit. Die Durchführung eines Rückgriffs führe hier im Praktischen dazu, dass der Versicherte das, was er mit der einen Hand erhalten habe, mit der anderen wieder herausgeben müsse. Daher müssten, um in solchen Fällen ein Leerlaufen der Sozialversicherung zu vermeiden und ihrem Schutzzweck gerecht zu werden, auch für den Rückgriffsanspruch des Sozialversicherungsträgers aus § 1542 RVO die Schranken gelten, die der spätere Gesetzgeber des Versicherungsvertragsgesetzes für den privaten Schadensversicherer ausdrücklich ausgesprochen habe.
Rz. 415
Zitat
c) Eine analoge Anwendung des § 67 II VVG a.F. verneinte der BGH allerdings für den Bereich der Sozialhilfe. Eine Forderungsüberleitung war hier nach § 90 I BSHG möglich.
Rz. 416
Zitat
d) Zur Begründung des nunmehr in § 116 VI SGB X sowohl im Sozialversicherungs- als auch im Sozialhilfebereich ausdrücklich eingeschränkten Anspruchsübergangs verwies die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf auf die zu § 1542 RVO ergangene Rechtsprechung. Sowohl im Interesse der Erhaltung des häuslichen Familienfriedens und damit zum Schutze der Familiengemeinschaft als auch angesichts des Zwecks von Sozialleistungen sei nach § 116 VI 1 SGB X der Anspruchsübergang ausgeschlossen, wenn ein Familienmitglied, das mit dem Geschädigten oder seinem Hinterbliebenen in häuslicher Gemeinschaft lebt, die Schädigung fahrlässig herbeigeführt habe (vgl. BT-Drucksache 9/95, S. 28).