Dr. Nicolai Besgen, Thomas Prinz
I. Allgemeine Grundsätze
Rz. 127
Mit der voranschreitenden Digitalisierung der Arbeitswelt und in den Betrieben wollen auch Gewerkschaften insbesondere Mitgliederwerbung über moderne Kommunikationswege wie E-Mail, Intranet und Internet betreiben.
Rz. 128
Zur Einschätzung der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer entsprechenden Nutzung soll zunächst ein allgemeiner Überblick über die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Information und Werbung im Betrieb gegeben werden. Vor dem Hintergrund der Aufgabe bzw. Klarstellung der Kernbereichslehre durch das BVerfG hat der Erste Senat des BAG mit den Urteilen vom 28.2.2006 seine zuvor ablehnende Rechtsprechung zum betrieblichen Zutrittsrecht betriebsfremder Gewerkschaftsbeauftragter geändert und den Gewerkschaften dem Grunde nach ein Zutrittsrecht zu den Zwecken der Mitgliederwerbung und Informationstätigkeit zugesprochen. Zu dieser verfassungsrechtlich gewährleisteten Betätigung gehört das Recht auf Mitgliederwerbung und gewerkschaftliche Information. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts dürfen Gewerkschaften daher auch im Betrieb um Mitglieder werben. Dies gilt entsprechend § 74 Abs. 3 BetrVG aber nur für bereits im Betrieb tätige Gewerkschaftsmitglieder. Dabei orientiert sich das BAG hinsichtlich des koalitionsrechtlichen Zugangsrechts am betriebsverfassungsrechtlichen Zutrittsrecht des § 43 Abs. 4 BetrVG, wonach einmal im Kalenderhalbjahr Zutritt begehrt werden könne, das bietet für die Praxis zumindest eine gewisse Berechenbarkeit. Betriebsfremde Gewerkschafter haben kein Zutrittsrecht zum Betrieb zur Wahrnehmung koalitionsrechtlicher Aufgaben. Diese dürfen den Betrieb nur zur Wahrnehmung betriebsverfassungsrechtlicher Aufgaben und Befugnisse betreten, nicht aber um gewerkschaftliche Informations- und Werbetätigkeiten zu entfalten. Nach Absprache mit dem Arbeitgeber ist eine Mitgliederwerbung z.B. durch Plakate am Schwarzen Brett möglich, auch Vereinbarungen der Sozialpartner zur virtuellen Betätigung von Gewerkschaften im Betrieb sind dementsprechend möglich.
Rz. 129
Das Recht zur Information und Werbung im Betrieb berechtigt die Gewerkschaften allerdings nicht, auf das Eigentum, Betriebsmittel, organisatorische Einrichtungen oder personelle Mittel des Arbeitgebers zuzugreifen. Es ist z.B. unzulässig, vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellte Schutzhelme mit Emblemen einer Gewerkschaft zu bekleben. Es ist ebenso unzulässig, Gewerkschaftswerbung über ein hausinternes Postverteilungssystem des Arbeitgebers an die Arbeitnehmer verteilen zu lassen. Die Maßnahmen dürfen insgesamt den Betriebsfrieden und den Betriebsablauf nicht stören und müssen sich unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in einem sachgerechten Rahmen bewegen.
II. Gewerkschaftswerbung im Internet, Intranet und per E-Mail
Rz. 130
Diese Grundsätze lassen sich grundsätzlich auf die Nutzung moderner Kommunikationseinrichtungen übertragen.
Das schließt den Versand von Gewerkschaftswerbung an betriebliche E-Mail-Adressen nicht aus. Das BAG hat erneut festgehalten, dass die Entscheidung der Koalition, in welcher Art und Weise sie Werbung betreiben und Dritte über ihre Aktivitäten informieren will, zu der von Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Betätigungsfreiheit gehört. Im Jahr 2009 hat das BAG entschieden, dass eine tarifzuständige Gewerkschaft aufgrund ihrer verfassungsrechtlich geschützten Betätigungsfreiheit grundsätzlich berechtigt ist, E-Mails zu Werbezwecken auch ohne Einwilligung des Arbeitgebers und Aufforderung durch die Arbeitnehmer an die betrieblichen E-Mail-Adressen der Beschäftigten zu versenden. Dies gelte auch bei einem Verbot der privaten E-Mail-Nutzung. Das durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Eigentumsrecht des Arbeitgebers und sein von Art. 2 Abs. 1 GG erfasstes Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb hätten gegenüber der gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit zurückzutreten, solange der E-Mail-Versand nicht zu nennenswerten Betriebsablaufstörungen oder spürbaren, der Gewerkschaft zuzurechnenden Belastungen führt. Der Arbeitgeber muss daher im Einzelfall Störungen des Betriebsfriedens und messbare wirtschaftliche...