Rz. 92
Das neue Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich enthält keine ausdrücklichen Regelungen zum Gesellschafts- und Unternehmensrecht. Das Abkommen sieht lediglich eine allgemeine Verpflichtung zur Meistbegünstigung von Unternehmen vor. Dies umfasst auch die Pflicht zur Anerkennung von Gesellschaften und deren Rechts- und Parteifähigkeit. Kapitalgesellschaften, die im Gebiet einer der Vertragsparteien ordnungsgemäß gegründet worden sind und eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, sind daher auch von der anderen Vertragspartei anzuerkennen.
Rz. 93
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Echte Auslandsgesellschaften: Demnach sind englische private limited companies in Deutschland auch nach dem 1.1.2021 weiter als Kapitalgesellschaft anzuerkennen, wenn sie im Vereinigten Königreich ihren Satzungssitz haben und dort tatsächlich unternehmerisch tätig sind. Für die (echten) Auslandsgesellschaften verbleibt es somit bei der Geltung der (abkommensrechtlichen) Gründungstheorie. |
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Unechte Auslandsgesellschaften (Scheinauslandsgesellschaften): Dagegen sind englische private limited companies in Deutschland seit dem 1.1.2021 nicht mehr als Kapitalgesellschaften anzuerkennen, wenn sie im Vereinigten Königreich nur ihren Satzungssitz haben und dort tatsächlich nicht unternehmerisch tätig sind. Dies dürfte bei den meisten englischen private limited companies mit Verwaltungssitz in Deutschland der Fall sein, die von deutschen Gründern für unternehmerische Tätigkeiten in Deutschland errichtet worden sind. Diese sind im Vereinigten Königreich nicht oder allenfalls ganz geringfügig tätig und fallen daher nicht unter den Schutz des Handels- und Kooperationsabkommens. Für die (unechten) Auslandsgesellschaften gilt somit die Sitztheorie. Die Gründungstheorie hat insoweit keine Grundlage mehr, und zwar weder in der europäischen Niederlassungsfreiheit noch in der abkommensrechtlichen Meistbegünstigung. |
Rz. 94
Die Unterscheidung zwischen echten Auslandsgesellschaften (Gründungstheorie) und unechten Auslandsgesellschaften (Sitztheorie) mag in der Praxis zu gewissen Abgrenzungsproblemen führen. Eine Zersplitterung der Rechtsanwendung ist aber nicht zu befürchten. Die Fälle der Scheinauslandsgesellschaften (Briefkastengesellschaften) dürften meist anhand der äußerlichen Indizien ohne Weiteres erkennbar sein. Für die echten Auslandsgesellschaften dürfte die Hürde der "substantive business operations" dagegen nicht allzu hoch sein.
Rz. 95
Praxishinweis: Auslandsgesellschaften werden von dem Handelsabkommen nur dann geschützt, wenn sie im Vereinigten Königreich über "substantive business operations" verfügen.
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Ein bloßer Satzungssitz der Gesellschaft im Vereinigten Königreich genügt insoweit nicht. |
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Ein Verwaltungssitz ist dafür aber nicht erforderlich. Eine erhebliche Geschäftstätigkeit im Vereinigten Königreich kann auch dann vorliegen, wenn eine Gesellschaft ihren Verwaltungssitz in Deutschland hat. Das Kriterium der "substantive business operations" verlangt keinen Verwaltungssitz (im Sinne des Zivilrechts) und keine Betriebsstätte (im Sinne des Steuerrechts, § 10 AO) im Vereinigten Königreich. Ein Verwaltungssitz im Vereinigten Königreich ist daher keine notwendige (aber eine ausreichende) Voraussetzung für das Vorliegen von "substantive business operations" im Vereinigten Königreich. |
Rz. 96
Die Vorgaben des Handelsabkommens zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich machen es erforderlich, bei allen weiteren Fragen zwischen echten und unechten Auslandsgesellschaften (Scheinauslandsgesellschaften) zu unterscheiden.