aa) Grundsatz: Sitztheorie
Rz. 43
In Deutschland ist das internationale Gesellschaftsrecht bis heute gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Daran dürfte sich auf absehbare Zeit nichts ändern. Der Vorschlag einer generellen Kodifizierung der Gründungstheorie hatte bislang keinen Erfolg und ist (derzeit) auch nicht mehrheitsfähig.
Der deutsche Gesetzgeber hat auch den Brexit nicht zum Anlass genommen, um das internationale Gesellschaftsrecht zu regeln. Eine partielle Einführung der Gründungstheorie für Gesellschaften aus dem Vereinigten Königreich ist in Deutschland bewusst nicht erfolgt.
Rz. 44
Maßgebend sind daher die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze. Der BGH geht in ständiger Rechtsprechung von der Sitztheorie aus. Danach bestimmt sich das Gesellschaftsrecht nach dem Recht am tatsächlichen Verwaltungssitz der Gesellschaft. Eine Kapitalgesellschaft mit Verwaltungssitz in Deutschland ist daher rechtlich nur dann anzuerkennen, wenn die in Deutschland geltenden Gründungsvorschriften eingehalten worden sind. Auf diese Weise soll eine Umgehung der deutschen Gründungsvorschriften verhindert und der Rechtsverkehr sowie die Gläubiger geschützt werden.
Rz. 45
Die englischen private limited companies mit Satzungssitz im Vereinigten Königreich und Verwaltungssitz in Deutschland wurden daher jahrzehntelang nicht als Kapitalgesellschaften anerkannt. Diese Einschätzung änderte sich erst um das Jahr 2000 aufgrund der weiten Auslegung der europäischen Niederlassungsfreiheit durch den EuGH.
bb) Ausnahme: Europarechtliche Gründungstheorie
Rz. 46
Nach den Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Centros (1999), Überseering (2002) und Inspire Art (2003) sind Gesellschaften, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union wirksam gegründet worden sind, in allen anderen Mitgliedstaaten in vollem Umfang anzuerkennen. Grundlage dafür ist die europäische Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV).
Rz. 47
Danach war eine englische private limited company in Deutschland auch dann als Kapitalgesellschaft anzuerkennen, wenn diese im Vereinigten Königreich lediglich ihren Satzungssitz, nicht aber auch ihren Verwaltungssitz hat. Dies galt selbst dann, wenn die Gründung der Gesellschaft nur deshalb im Vereinigten Königreich erfolgt ist, um die deutschen Vorschriften über die Gründung von Kapitalgesellschaften (z.B. Aufbringung des Mindeststammkapitals, Kontrolle durch das Registergericht) zu umgehen. Die Rechtsprechung hat darin auch keinen Missbrauch gesehen. Aufgrund des Vorrangs des Europarechts musste die deutsche Rechtsprechung dieser Auslegung der Niederlassungsfreiheit folgen.
Rz. 48
Für Gesellschaften aus anderen EU-Mitgliedstaaten gilt seitdem die Gründungstheorie. Danach musste eine englische private limited company, die im Vereinigten Königreich wirksam gegründet worden ist, in Deutschland uneingeschränkt als Kapitalgesellschaft anerkannt werden. Diese europarechtliche Gründungstheorie gilt seitdem auch für Gesellschaften aus den EWR-Mitgliedstaaten Norwegen, Island und Liechtenstein (nicht aber auc...