Rz. 46
Nach den Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Centros (1999), Überseering (2002) und Inspire Art (2003) sind Gesellschaften, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union wirksam gegründet worden sind, in allen anderen Mitgliedstaaten in vollem Umfang anzuerkennen. Grundlage dafür ist die europäische Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV).
Rz. 47
Danach war eine englische private limited company in Deutschland auch dann als Kapitalgesellschaft anzuerkennen, wenn diese im Vereinigten Königreich lediglich ihren Satzungssitz, nicht aber auch ihren Verwaltungssitz hat. Dies galt selbst dann, wenn die Gründung der Gesellschaft nur deshalb im Vereinigten Königreich erfolgt ist, um die deutschen Vorschriften über die Gründung von Kapitalgesellschaften (z.B. Aufbringung des Mindeststammkapitals, Kontrolle durch das Registergericht) zu umgehen. Die Rechtsprechung hat darin auch keinen Missbrauch gesehen. Aufgrund des Vorrangs des Europarechts musste die deutsche Rechtsprechung dieser Auslegung der Niederlassungsfreiheit folgen.
Rz. 48
Für Gesellschaften aus anderen EU-Mitgliedstaaten gilt seitdem die Gründungstheorie. Danach musste eine englische private limited company, die im Vereinigten Königreich wirksam gegründet worden ist, in Deutschland uneingeschränkt als Kapitalgesellschaft anerkannt werden. Diese europarechtliche Gründungstheorie gilt seitdem auch für Gesellschaften aus den EWR-Mitgliedstaaten Norwegen, Island und Liechtenstein (nicht aber auch für Gesellschaften aus der Schweiz). Schließlich gilt die Gründungstheorie für Gesellschaften, die in den USA wirksam gegründet worden sind. Rechtsgrundlage hierfür ist die Meistbegünstigungsklausel in dem deutsch-amerikanischen Freundschaftsvertrag aus dem Jahr 1954.
Rz. 49
Für Gesellschaften aus allen anderen Staaten gilt dagegen (jedenfalls nach Auffassung der Rechtsprechung) bis heute die (modifizierte) Sitztheorie. Der BGH hat dies zuletzt in seinem Urteil "Trabrennbahn" aus dem Jahr 2008 für eine Aktiengesellschaft schweizerischen Rechts entschieden. Die Schweiz habe sich bewusst gegen eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union und dem Europäischen Wirtschaftsraum entschieden. Die Niederlassungsfreiheit findet demnach im Verhältnis zur Schweiz keine Anwendung. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den bilateralen Verträgen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz. Die Schweiz ist bis heute ein Drittstaat. Eine Kapitalgesellschaft mit Satzungssitz in der Schweiz und Verwaltungssitz in Deutschland ist daher in Deutschland zwar anzuerkennen, aber nicht als Kapitalgesellschaft. Die Schweizer Kapitalgesellschaft ist in Deutschland vielmehr als eine rechtsfähige Personengesellschaft zu behandeln. Damit entfällt die Haftungsbeschränkung der Kapitalgesellschaft.
Rz. 50
Diese Entscheidung des BGH ist bis heute unverändert gültig. Eine Änderung der Rechtsprechung ist derzeit (trotz mancher Kritik) nicht zu erwarten.