I. Einführung
Rz. 39
Die rechtlichen Rahmenbedingungen für englische private limited companies haben sich aus deutscher Sicht zum 1.1.2021 grundlegend geändert:
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Das Recht der Europäischen Union gilt nicht mehr (siehe Rdn 41 ff.). |
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Die in dem Austrittsabkommen vereinbarte Übergangsfrist ist zum 31.12.2020 ausgelaufen (siehe Rdn 65 ff.). |
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Zum 1.1.2021 ist (vorläufig) das neue Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich in Kraft getreten. Die Bedeutung dieses Abkommens im Bereich des Gesellschafts- und Unternehmensrechts ist derzeit noch schwer einzuschätzen (siehe Rdn 66 ff.). |
Darüber hinaus gilt das nationale Gesellschafts(kollisions)recht, das sowohl im Vereinigten Königreich als auch in Deutschland maßgebend durch die Rechtsprechung geprägt wird. Die Gerichte werden die neuen Entwicklungen möglicherweise zum Anlass nehmen, um ihre bisherige Rechtsprechung neu auszurichten. Eine grundlegende Änderung ist aber (zumindest was den deutschen BGH betrifft) derzeit nicht zu erwarten.
Rz. 40
Die neue Rechtslage ist durch eine Vielzahl an nationalen, europäischen und internationalen Regelungen geprägt, deren praktische Anwendung im Unternehmensalltag vermutlich nicht immer ganz einfach sein wird. Im Verhältnis zum Vereinigten Königreich ist daher in den nächsten Jahren auch im Bereich des Gesellschaftsrechts von einer erheblichen Rechts- und Planungsunsicherheit auszugehen.
II. Europarecht
1. Niederlassungsfreiheit
a) Perspektive des Vereinigten Königreichs
Rz. 41
Das Vereinigte Königreich folgt im Bereich des internationalen Gesellschaftsrechts traditionell der Gründungstheorie. Eine englische private limited company ist daher rechtlich als Kapitalgesellschaft anzuerkennen, wenn sie im Vereinigten Königreich wirksam gegründet worden ist. Die Gesellschaft muss nur ihren Satzungssitz im Vereinigten Königreich haben. Der Verwaltungssitz kann dagegen im In- oder Ausland liegen. Eine englische private limited company kann ihren Verwaltungssitz daher auch von Anfang an (und ausschließlich) in Deutschland haben.
Rz. 42
Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union und der Wegfall der europäischen Niederlassungsfreiheit ändern daran nichts. Die englische private limited company bleibt davon unberührt. Es kommt weder zu einem Rechtsformwechsel noch zu einem Statutenwechsel. Bei der private limited company handelt es sich unverändert um eine Kapitalgesellschaft nach englischem Recht.
b) Perspektive der Bundesrepublik Deutschland
aa) Grundsatz: Sitztheorie
Rz. 43
In Deutschland ist das internationale Gesellschaftsrecht bis heute gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Daran dürfte sich auf absehbare Zeit nichts ändern. Der Vorschlag einer generellen Kodifizierung der Gründungstheorie hatte bislang keinen Erfolg und ist (derzeit) auch nicht mehrheitsfähig.
Der deutsche Gesetzgeber hat auch den Brexit nicht zum Anlass genommen, um das internationale Gesellschaftsrecht zu regeln. Eine partielle Einführung der Gründungstheorie für Gesellschaften aus dem Vereinigten Königreich ist in Deutschland bewusst nicht erfolgt.
Rz. 44
Maßgebend sind daher die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze. Der BGH geht in ständiger Rechtsprechung von der Sitztheorie aus. Danach bestimmt sich das Gesellschaftsrecht nach dem Recht am tatsächlichen Verwaltungssitz der Gesellschaft. Eine Kapitalgesellschaft mit Verwaltungssitz in Deutschland ist daher rechtlich nur dann anzuerkennen, wenn die in Deutschland geltenden Gründungsvorschriften eingehalten worden sind. Auf diese Weise soll eine Umgehung der deutschen Gründungsvorschriften verhindert und der Rechtsverkehr sowie die Gläubiger geschützt werden.
Rz. 45
Die englischen private limited companies mit Satzungssitz im Vereinigten Königreich und Verwaltungssitz in Deutschland wurden daher jahrzehntelang nicht als Kapitalgesellschaften anerkannt. Diese Einschätzung änderte sich erst um das Jahr 2000 aufgrund der weiten Auslegung der europäischen Niederlassungsfreiheit durch den EuGH.