1. Anlass
Rz. 4
Das jahrelange Schattendasein der Zweigniederlassungen wurde in der Vergangenheit für kurze Zeit, dafür aber umso heftiger unterbrochen. Auslöser für diese Entwicklung war die Rechtsprechung des EuGH zur europäischen Niederlassungsfreiheit in den Rechtssachen Centros (1999), Überseering (2002) und Inspire Art (2003). Danach waren Gesellschaften, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union wirksam gegründet worden sind, in allen anderen Mitgliedstaaten in vollem Umfang anzuerkennen. Jeder Unternehmer konnte somit eine Gesellschaft in einem Mitgliedstaat seiner Wahl gründen und mit dieser in allen anderen Mitgliedstaaten tätig werden.
Rz. 5
Diese weite Auslegung der europäischen Niederlassungsfreiheit hat in Deutschland (und auch in Österreich) zu einem bis dahin völlig unbekannten Wettbewerb zwischen den nationalen Rechtsformen der Kapitalgesellschaften geführt. Die Rechtsform der deutschen GmbH erschien aus Sicht vieler Unternehmensgründer plötzlich als aufwändig, kompliziert und bürokratisch. Die englische Rechtsform der private limited company wurde vielfach als die "bessere" Alternative angesehen (und auch intensiv als solche beworben), da diese ohne Mindestkapital, ohne Registerkontrolle und ohne Beurkundung schnell und einfach zu gründen war.
Rz. 6
Diese private limited companies hatten im Vereinigten Königreich in aller Regel ausschließlich ihren (formalen) Satzungssitz, waren dort aber in keiner Weise unternehmerisch tätig. Der (tatsächliche) Verwaltungssitz befand sich vielmehr in Deutschland, wo die Unternehmen ihre geschäftliche Tätigkeit tatsächlich ausgeübt haben. Nachdem diese Gesellschaften im Ausland oft nur einen registrierten Satzungssitz (Briefkasten) hatten (und sonst nichts), werden sie häufig auch als Scheinauslandsgesellschaften bzw. Briefkastengesellschaften bezeichnet.
Rz. 7
Nach Auffassung des EuGH ist die Errichtung einer solchen Scheinauslandsgesellschaft aber keine unzulässige Umgehung des deutschen Kapitalgesellschaftsrechts und auch sonst nicht missbräuchlich oder unzulässig. Vielmehr sind auch solche Scheinauslandsgesellschaften auf der Grundlage der europäischen Niederlassungsfreiheit im Inland uneingeschränkt als Kapitalgesellschaften anzuerkennen.
2. Englische Scheinauslandsgesellschaften
Rz. 8
Diese rechtliche Entwicklung hatte zur Folge, dass insbesondere in den Jahren von ca. 2000 bis 2010 eine Vielzahl von solchen Scheinauslandsgesellschaften von deutschen Unternehmensgründern im Vereinigten Königreich errichtet worden sind. Verschiedenen Schätzungen zufolge soll es sich dabei um 30.000 bis 50.000 Gesellschaften gehandelt haben. Die Scheinauslandsgesellschaften führten im deutschen Rechtsverkehr zu einer Reihe von Problemen.
Rz. 9
Der deutsche Gesetzgeber hat darauf schon bald reagiert und im Jahr 2008 im Rahmen der Modernisierung des GmbH-Rechts eine neue Rechtsformvariante in Gestalt der Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) geschaffen (§ 5a GmbHG). Die Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) kann mit einem Stammkapital von nur 1 EUR und einem standardisierten Musterprotokoll schnell und einfach errichtet werden. Im Wettbewerb der europäischen Rechtsformen hat die deutsche Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) der englischen private limited company (aus Sicht der deutschen Gründer) bereits nach kurzer Zeit den Rang abgelaufen. Die Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) hat sich am Markt durchgesetzt und etabliert. Ein wesentlicher Grund dafür war sicherlich, dass es für eine Tätigkeit in Deutschland sehr viel einfacher ist, sich der Rechtsform eines deutschen Unternehmens zu bedienen. Das Auftreten als englische private limited company in Deutschland verursacht zwangläufig viele Irritationen und Schwierigkeiten.
Rz. 10
Die Attraktivität von englischen Scheinauslandsgesellschaften hat damit bereits nach dem Jahr 2008 stark nachgelassen. Das endgültige "Aus" der englischen private limited company in Deutschland bewirkte aber schließlich der Brexit. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union endet auch die Geltung der Niederlassungsfreiheit. Danach müssen Kapitalgesellschaften, die im Vereinigten Königreich gegründet worden sind, in Deutschland grundsätzlich nicht mehr als Kapitalgesellschaften anerkannt werden. Das deutsche Recht erkennt diese Gesellschaften auf der Grundlage der (modifizierten) Sitztheorie seitdem auch nicht mehr an.
3. Inländische Zweigniederlassungen
Rz. 11
Der vorübergehende Boom bei...