Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 62
Wenn der BGH auch die Praxis der Instanzgerichte, das Substantiierungsgebot zur Missbrauchskontrolle einzusetzen, nicht gelten lassen will, so kommt er doch seinerseits nicht umhin, die Anforderungen an die Darlegungslast zu variieren, und zwar unabhängig davon, welcher Vortrag erforderlich ist, um die Schlüssigkeit oder Erheblichkeit eines Vorbringens darzutun. Wenn eine darlegungspflichtige Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufes steht und keine nähere Kenntnis der maßgeblichen Tatsachen besitzt, während der Prozessgegner sie hat und ihm nähere Angaben zumutbar sind, wird ihm abverlangt, zur Entlastung des Darlegungspflichtigen Tatsachen vorzutragen, derer er selbst nicht bedürfte, um sein Vorbringen schlüssig zu machen. Der BGH spricht insoweit von einer sekundären Behauptungslast. Kommt eine Partei dieser Verpflichtung nicht nach, gilt das Vorbringen des Gegners als zugestanden, § 138 Abs. 3 ZPO. Die Zumutbarkeit setzt aber stets besondere Anknüpfungspunkte voraus, die sich durch die Art des vorangegangenen Tuns der beweisbegünstigten Partei oder ihrer persönlichen Verhältnisse und Beziehungen zum Gegner ergeben können.
Erst dann, wenn die an sich darlegungs- und beweispflichtige Partei alles ihr Mögliche und Zumutbare getan hat, um den rechtserheblichen Tatsachenstoff aufzuklären, kann sich die Frage stellen, ob von der Gegenpartei zusätzliche Angaben zu verlangen sind.
Musielak, 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, Bd. III, S. 195, 197:
Zitat
Nur wenn die Darlegung des entscheidungserheblichen Geschehensablaufs an der fehlenden Kenntnis der behauptungsbelasteten Partei scheitert, kann von der Gegenpartei erwartet werden, dass sie dem Gericht die ihr bekannten Tatsachen zur Aufklärung des Geschehensablaufs mitteilt, es sei denn, dass ihr ein solcher Tatsachenvortrag nicht zugemutet werden kann. Nicht zumutbar erscheint beispielsweise der Vortrag von Betriebsgeheimnissen; die berechtigten Interessen an der Geheimhaltung solcher Daten müssen berücksichtigt werden, BGH NJW 1961, 828.
Rz. 63
Eine sekundäre Behauptungslast wurde z.B. in folgenden Fällen angenommen:
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für die persönlichen Verhältnisse des Schadensersatz einklagenden Geschädigten wegen des Mitverschuldenseinwands gem. § 254 Abs. 2 BGB dahin, dass der Geschädigte sich nicht um eine zumutbare Ersatzarbeit bemüht habe, |
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für den aus ungerechtfertigter Bereicherung in Anspruch Genommenen, der geltend macht, das Erlangte behalten zu dürfen, |
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für den Geschäftsführer einer GmbH, dem die vertragswidrige Verwendung von Gesellschaftsmitteln vorgeworfen wird, |
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für den Geschäftsführer einer GmbH, der geltend macht, trotz Überschuldung der Gesellschaft nicht verpflichtet gewesen zu sein, den Insolvenzantrag nach § 15a InsO GmbH zu stellen, |
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für den Versicherungsnehmer, wenn der Versicherer Anknüpfungstatsachen vorgetragen hat, die als schlüssige Indizien für eine wissentliche Pflichtverletzung betrachtet werden können, |
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für denjenigen, dem eine Verletzung seiner Beratungs- und Auskunftspflichten vorgeworfen wird, |
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für denjenigen, dem eine Verletzung von Hygienebestimmungen und Vorgaben zur Infektionsprävention in der Notaufnahme vorgeworfen wird. |
BGH, NJW-RR 2019, 467:
Zitat
Im Arzthaftungsprozess wird die erweiterte – sekundäre – Darlegungslast der Behandlungsseite ausgelöst, wenn die primäre Darlegung des Konfliktstoffs durch den Patienten den insoweit geltenden maßvollen Anforderungen genügt und die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens der Behandlungsseite aufgrund der Folgen für ihn gestattet, während es dieser möglich und zumutbar ist, den Sachverhalt näher aufzuklären. Letzteres wird bei der Behauptung eines Hygieneverstoßes regelmäßig der Fall sein.
Rz. 64
Über die Anforderungen, die an die Schlüssigkeit eines Parteivorbringens zu stellen sind, hinaus wird also mitunter demjenigen ein erweiterter Sachvortrag abverlangt, der dem Geschehensablauf nähersteht als der an sich darlegungs- und beweispflichtige Gegner.
Der BGH unterscheidet dahingehend, dass eine Partei, die sich in typischer Unkenntnis der ihrer Substantiierungspflicht unterliegenden Tatsachen befindet, noch keine Aufklärungspflicht des Gegners auslösen soll; wohl aber sich die Substantiierungspflicht des Gegners erweitern soll, wenn die darlegungspflichtige Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufes steht; bestätigt in BGH NJW 1997, 128.
Rz. 65
Die erweiterten Pflichten werden auf § 242 BGB gestützt, der auch im Zivilprozessrecht entsprechende Anwendung findet.
BGH NJW 1994, 2289, 2292:
Zitat
[Aus dem] Grundsatz von Treu und Glauben [kann] sich eine Verpflichtung der nicht beweisbelasteten Partei ergeben, dem Gegner gewisse Informationen zur Erleichterung seiner Beweisführung zu bieten, zu denen namentlich die Spezifizierung von Tatsachen gehören, wenn und soweit diese der Kenntnis der mit der Beweisführung belasteten Partei nicht oder nur unter unverhältnism...