Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 61
In welchem Umfang die Rspr. zur Rechtsfortbildung aufgerufen ist, wird immer streitig bleiben. Einigkeit besteht darüber, dass Rechtsfortbildung nicht allein durch den Gesetzgeber erfolgen kann; Einigkeit besteht aber auch insoweit, dass die Rechtsfortbildung durch die Rspr. nicht in die Kompetenz des Gesetzgebers eingreifen darf.
Die unauffälligste Art der Rechtsfortbildung vollzieht sich durch die Veränderung prozessrechtlicher Maximen. Materiell-rechtliche Normen erlangen häufig erst Entfaltungsmöglichkeit bzw. werden umgekehrt völlig wirkungslos, je nachdem wie die Anforderungen an die Substantiierung des Vortrages der Parteien, an die Beweislast und an das Beweismaß ausgestaltet sind.
Über das Prozessrecht wird tiefgreifend auf das materielle Recht eingewirkt. Da die Prozessrechtsmaximen weniger scharf definiert sind – zumeist findet sich in der ZPO nicht einmal eine eindeutige Grundlage – kann mit dem Prozessrecht flexibel auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert werden.
Eine Konsequenz dieser Unbestimmtheit ist, dass der Rechtsberater die Erfolgsaussicht einer Rechtsverfolgung nur schwer abschätzen kann. Hinzu kommt, dass die Prozessrechtsgrundsätze mitunter in den verschiedenen Rechtsgebieten eine ganz unterschiedliche Ausgestaltung erfahren. Es gibt nicht mehr nur eine Zivilprozessordnung, sondern eine für das Straßenverkehrsrecht, eine andere für die Arzthaftung, für das Versicherungsrecht und auch eine für die Haftung des GmbH-Geschäftsführers.
Wegen der starken Verflechtung von materiellem Recht und Prozessrecht muss auch der nicht forensisch tätige Rechtsberater die Entwicklung des Prozessrechtes zumindest auf dem Rechtsgebiet kennen, auf dem er tätig ist.
1. Sekundäre Behauptungslast
Rz. 62
Wenn der BGH auch die Praxis der Instanzgerichte, das Substantiierungsgebot zur Missbrauchskontrolle einzusetzen, nicht gelten lassen will, so kommt er doch seinerseits nicht umhin, die Anforderungen an die Darlegungslast zu variieren, und zwar unabhängig davon, welcher Vortrag erforderlich ist, um die Schlüssigkeit oder Erheblichkeit eines Vorbringens darzutun. Wenn eine darlegungspflichtige Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufes steht und keine nähere Kenntnis der maßgeblichen Tatsachen besitzt, während der Prozessgegner sie hat und ihm nähere Angaben zumutbar sind, wird ihm abverlangt, zur Entlastung des Darlegungspflichtigen Tatsachen vorzutragen, derer er selbst nicht bedürfte, um sein Vorbringen schlüssig zu machen. Der BGH spricht insoweit von einer sekundären Behauptungslast. Kommt eine Partei dieser Verpflichtung nicht nach, gilt das Vorbringen des Gegners als zugestanden, § 138 Abs. 3 ZPO. Die Zumutbarkeit setzt aber stets besondere Anknüpfungspunkte voraus, die sich durch die Art des vorangegangenen Tuns der beweisbegünstigten Partei oder ihrer persönlichen Verhältnisse und Beziehungen zum Gegner ergeben können.
Erst dann, wenn die an sich darlegungs- und beweispflichtige Partei alles ihr Mögliche und Zumutbare getan hat, um den rechtserheblichen Tatsachenstoff aufzuklären, kann sich die Frage stellen, ob von der Gegenpartei zusätzliche Angaben zu verlangen sind.
Musielak, 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, Bd. III, S. 195, 197:
Zitat
Nur wenn die Darlegung des entscheidungserheblichen Geschehensablaufs an der fehlenden Kenntnis der behauptungsbelasteten Partei scheitert, kann von der Gegenpartei erwartet werden, dass sie dem Gericht die ihr bekannten Tatsachen zur Aufklärung des Geschehensablaufs mitteilt, es sei denn, dass ihr ein solcher Tatsachenvortrag nicht zugemutet werden kann. Nicht zumutbar erscheint beispielsweise der Vortrag von Betriebsgeheimnissen; die berechtigten Interessen an der Geheimhaltung solcher Daten müssen berücksichtigt werden, BGH NJW 1961, 828.
Rz. 63
Eine sekundäre Behauptungslast wurde z.B. in folgenden Fällen angenommen:
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für die persönlichen Verhältnisse des Schadensersatz einklagenden Geschädigten wegen des Mitverschuldenseinwands gem. § 254 Abs. 2 BGB dahin, dass der Geschädigte sich nicht um eine zumutbare Ersatzarbeit bemüht habe, |
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für den aus ungerechtfertigter Bereicherung in Anspruch Genommenen, der geltend macht, das Erlangte behalten zu dürfen, |
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für den Geschäftsführer einer GmbH, dem die vertragswidrige Verwendung von Gesellschaftsmitteln vorgeworfen wird, |
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für den Geschäftsführer einer GmbH, der geltend macht, trotz Überschuldung der Gesellschaft nicht verpflichtet gewesen zu sein, den Insolvenzantrag nach § 15a InsO GmbH zu stellen, |
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für den Versicherungsnehmer, wenn der Versicherer Anknüpfungstatsachen vorgetragen hat, die als schlüssige Indizien für eine wissentliche Pflichtverletzung betrachtet werden können, |
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für denjenigen, dem eine Verletzung seiner Beratungs- und Auskunftspflichten vorgeworfen wird, |
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für denjenigen, dem eine Verletzung von Hygienebestimmungen und Vorgaben zur Infektionsprävention in der Notaufnahme vorgeworfen wird. |
BGH, NJW-RR 2019, 467: