Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 19
Gemäß § 138 Abs. 1 ZPO haben die Parteien ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben. Das heißt, dass sie bei der Schilderung des von ihnen Darzulegenden wahrheitsgemäß vorgehen müssen; die Pflicht zur Vollständigkeit bedeutet, dass sie nicht das ihnen Günstige heraussuchen und anderes dagegen verschweigen dürfen. Andererseits führt die Pflicht zum vollständigen Vortrag aber nicht dazu, dass alle Einzelheiten des streitgegenständlichen Lebenssachverhalts detailliert darzulegen sind. Insoweit bleibt es dabei, dass es ausreichend ist, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen.
Die Parteien eines Rechtsstreits dürfen nichts behaupten, von dem sie wissen, dass es nicht stimmt, und nichts bestreiten, von dem sie wissen, dass es sich in Wirklichkeit so verhält, wie der Gegner vorgetragen hat. Sie dürfen aber durchaus etwas behaupten, was sie nur für möglich halten, selbst dann, wenn es ihnen sehr zweifelhaft erscheint. Umgekehrt dürfen sie eine Tatsachenbehauptung auch dann noch bestreiten, wenn sie die Wahrheit der gegnerischen Behauptung sehr wohl für möglich, ja sogar für wahrscheinlich halten. Erst positives Wissen verbietet gegenteiliges Behaupten und Bestreiten. Dementsprechend darf eine Partei nicht bewusst falsch vortragen, auch wenn sie den tatsächlichen Umstand für nicht entscheidungsrelevant hält.
Rz. 20
Die Wahrheitspflicht kann eine Partei in eine heikle Lage bringen, wie der vom OLG Brandenburg entschiedene Fall zeigt:
Ein Generalunternehmer war von einem Subunternehmer auf Zahlung des Restwerklohnes in Anspruch genommen worden, machte aber wegen Mängeln der Leistung des Subunternehmers ein Zurückbehaltungsrecht geltend. Zugleich berief sich der Generalunternehmer in einem anderen, von dem Bauherrn gegen ihn erhobenen Rechtsstreit auf die Mangelfreiheit der erbrachten Werkleistung. Das OLG Brandenburg ist dem Einwand des Subunternehmers, das sei unzulässig, nicht gefolgt. Solange weder in dem einen noch in dem anderen Verfahren die Mangelfreiheit oder Mangelhaftigkeit der Leistung feststehe, bleibe dem Generalunternehmer gar nichts anderes übrig, als sich so zu verteidigen.
Dem ist in dieser Allgemeinheit nicht zuzustimmen. Wenn der Beklagte konkret um die Mangelhaftigkeit oder -freiheit der Leistung weiß, darf er nichts Gegenteiliges behaupten. Dass das Gericht zu einem anderen Ergebnis gelangen könnte, ist kein ausreichender Rechtfertigungsgrund für seinen subjektiv wahrheitswidrigen Vortrag. Etwas anderes wird allerdings dann gelten müssen, wenn die Partei sich ihrer Sache selbst nicht sicher ist. Und da das Gericht zumeist nicht wissen kann, was eine Partei wirklich weiß oder glaubt, bleibt dem Gericht auch nichts anderes übrig, als sie mit ihrem widersprüchlichen Vorbringen zuzulassen.
Rz. 21
Ein erkennbar – weil z.B. durch Beweis ermittelt – falscher Tatsachenvortrag der Partei bleibt vom Gericht unberücksichtigt. Trägt eine Partei in späteren Schriftsätzen anders als in früheren vor, hält aber gleichzeitig an ihrem ursprünglichen Sachvortrag konkludent oder ausdrücklich fest, liegt ein Verstoß gegen die Wahrheitspflicht nach § 138 Abs. 1 ZPO vor: Der widersprüchliche Vortrag ist unbeachtlich. Ferner tritt die aus § 331 Abs. 1 ZPO folgende Geständniswirkung nicht ein, wenn das Gericht den Vortrag der Partei als unwahr erkannt hat. Die Verletzung der Wahrheitspflicht kann auch dazu führen, dass sich eine Partei um die Vergünstigung der Beweiserleichterung des § 287 ZPO (vgl. § 5 Rdn 27 ff.) bringt. Im Übrigen löst der Verstoß gegen die Wahrheitspflicht keine zivilprozessualen Sanktionen aus, kann aber natürlich strafrechtlich relevant sein (Stichwort: Prozessbetrug).
Rz. 22
Dass der Prozessvortrag einer Partei im Widerspruch zu ihrem vorprozessualen Vorbringen steht, kann es nicht rechtfertigen, den Beweisantritten dieser Partei nicht nachzugehen. Im Zweifel wird ein sog. überholender Vortrag angenommen, welcher zwar im Widerspruch zum vorherigen Vorbringen steht, sich aber entsprechend von diesem distanziert. (Allerdings wird man wohl von ihr verlangen können, dass sie dazu vorträgt, wie sich dieser Widerspruch erklärt.)
Rz. 23
Eine Partei braucht nicht kenntlich zu machen, dass es sich bei ihrer Behauptung lediglich um eine Vermutung handelt. Sie schuldet weder dem Gericht noch dem Gegner Auskunft darüber, woher sie ihre Informationen bezieht.
BGH GRUR 2012, 945, 949:
Zitat
[Eine Partei genügt bei einem zur Rechtsverteidigung gehaltenen Sachvortrag ihren Substantiierungspflichten bereits dann], wenn sie Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das von der Gegenseite geltend gemachte Recht als nicht bestehend erscheinen zu lassen. Unerheblich ist dabei, wie wahrscheinlich die Darstellung ist und ob sie auf eigenem Wissen oder auf einer Sch...