Rz. 105

Lehnt das Kind den Kontakt zum umgangsberechtigten Elternteil ab, so ist das Gericht verpflichtet, die Gründe für diese Ablehnung zu ermitteln und sie im Rahmen der Entscheidung angemessen zu werten.[390] Die Interessen des Kindes, des umgangsberechtigten und des betreuenden Elternteils, die Ursachen der Umgangsablehnung sowie die Folgen einer Missachtung des Kindeswillens sind gegeneinander abzuwägen.

 

Rz. 106

Insbesondere in den Fällen einer unüberwindlichen Abneigung gegen einen Elternteil ist eine verstärkte Aufklärung und Sensibilität geboten.[391] Ziel kann es regelmäßig nicht sein, den Kindeswillen zu "brechen",[392] erst recht nicht, wenn dieser Wille nachvollziehbar begründet werden kann, wobei in diesem Fall das Alter des Kindes nebensächlich ist.[393]

Ursächlich für eine solche unüberwindbare Ablehnung können verschiedene Gründe sein, wie etwa

nicht verarbeitete Konflikte anlässlich früherer Umgangskontakte,[394] insbesondere im ­Zusammenhang mit Gewalttätigkeiten des Umgangsberechtigten,[395]
erlittene Schockerlebnisse anlässlich wahrgenommener Kontakte,[396]
Furcht vor sexuellen Übergriffen.[397]
 

Rz. 107

Ebenso wenig wie auf einen nachvollziehbar erklärten ablehnenden Willen des Kindes mit einer zwangsweisen Durchsetzung des Umgangs reagiert werden kann,[398] ist im Regelfall – mittelfristig betrachtet – der gänzliche Abbruch der Kontakte und der persönlichen Beziehung zum umgangsberechtigten Elternteil mit dem Kindeswohl vereinbar.[399] Soweit es der Einzelfall rechtfertigt, kann ein begleiteter Umgang in Erwägung gezogen werden.[400] Lediglich als ultima ratio ist das Umgangsrecht vorübergehend auszusetzen,[401] wobei dem Sorgeberechtigten nahegelegt werden kann, mit dem Kind eine psychotherapeutische Behandlung aufzunehmen. Kommt der Sorgeberechtigte dem nicht nach, kann ihm dies hinsichtlich seiner selbst allerdings nicht förmlich auferlegt werden, sondern nur ggf. die Sorgerechtsregelung überprüft werden.[402] Im Rahmen dessen kann allerdings unter den Voraussetzungen von § 1666 BGB der Elternteil dazu verpflichtet werden, das Kind in psychotherapeutische Behandlung zu geben (siehe dazu § 1 Rdn 206).

 

Rz. 108

Ist die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes bereits so weit vorangeschritten, dass eine zwangsweise Umsetzung der Umgangskontakte eine Entwicklungsgefährdung darstellen könnte, so sind die Ursachen für die ablehnende Haltung detailliert zu ermitteln. Sie sind ebenso wie die gegenwärtig bestehende psychische und körperliche Verfassung in die Entscheidung einzubeziehen.[403] Auch bei nachvollziehbarer und aus Kindessicht begründeter Ablehnung[404] muss das Gericht in der Form auf das Kind einwirken, dass es ihm die Bedeutung des Umgangs vor Augen führt und es zu einer eigenständigen Überprüfung seiner ablehnenden Haltung veranlasst.

 

Rz. 109

Die für eine sachgerechte Willensbildung notwendige Reife eines Kindes wird in der Regel ab dessen 12. Lebensjahr angenommen.[405] Gleichwohl ist stets eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, wobei mit zunehmendem Alter ein sinnvoller Umgang nicht erzwungen werden kann.[406] Ein in dieser Form erzwungener Umgangskontakt wäre mit dem Persönlichkeitsrecht des Kindes unvereinbar.[407] Hinzu kommt, dass nach § 90 Abs. 2 S. 1 FamFG unmittelbarer Zwang gegen ein Kind nicht zugelassen werden darf, wenn es herausgegeben werden soll, um das Umgangsrecht auszuüben. Hierdurch wird zwar dem Umgangsberechtigten das Umgangsrecht als solches nicht abgesprochen, es besteht lediglich kein Raum für seine Durchsetzung.[408] § 90 Abs. 2 S. 1 FamFG lässt freilich rechtlich die Gewaltanwendung gegen den zur Herausgabe verpflichteten betreuenden Elternteil zu. Dies wird nur in besonderen Ausnahmefällen Betracht kommen, wenn gerade das Ausbleiben des Umgangs kindeswohlgefährdend ist und(!) sich die mit Gewalt gegen den betreuenden Elternteil durchgesetzte Zuführung zum anderen Elternteil zu Umgangszwecken in Abwägung aller Belange nicht als ebenso kindeswohlgefährdend darstellt.[409]

 

Rz. 110

Bei jüngeren Kindern kann die ablehnende Haltung auf vielfältigen Gründen beruhen. Eine negative Einstellung des betreuenden Elternteils kann für das Kind Signalwirkung entfalten, so dass es letztlich gezwungen wird, für diesen Elternteil Partei zu ergreifen. Zudem solidarisieren sich Kinder häufig mit dem aus ihrer Sicht hilfloseren und unter der Trennung stärker leidenden Elternteil. Oft stellen sie sich auch gerade gegen den Elternteil, zu dem sie vor der Trennung die engere Bindung hatten, weil sie sich von diesem Elternteil stärker enttäuscht, ja verraten fühlen. Die Abgrenzung unter Geschwistern vollzieht sich häufig in der gegensätzlichen Identifikation mit dem anderen Elternteil.

 

Rz. 111

Bei einem Kind unter zehn Jahren kann regelmäßig davon ausgegangen werden, dass dieses bei Einsatz erzieherischer Fähigkeiten zum Umgang bewegt werden kann.[410] Nur dann, wenn die derzeitige familiäre Situation keine Grundlage für eine möglichst konfliktfreie, für das Kind seelisch erträgli...

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