Rz. 22

 

Fallbeispiel 8: Die Erbschaft im Bedarfszeitraum

Die 55-jährige Tochter T ist Erbin nach ihrem Vater. Der Nachlass besteht aus einer Eigentumswohnung von 80 qm und 2.000 EUR. Welche Folgen hat das für die T?

T bezieht als dauerhaft voll Erwerbsgeminderte Grundsicherung nach § 41 SGB XII.

Variante: T bezieht bereits seit Jahren Grundsicherung nach § 19 SGB II.

 

Rz. 23

Einen Anspruch auf "Sozialhilfe"-Leistungen hat nur derjenige, der bedürftig ist und eigene Mittel (Einkommen und/oder Vermögen) oder die Mittel Dritter nicht bedarfsdeckend einsetzen muss. Eigene Mittel sind grundsätzlich bedarfsdeckend einzusetzen, wenn sie

nicht ausdrücklich "normativ anerkannt für andere Zwecke genutzt werden dürfen",[27]
zur Bedarfsdeckung geeignet sind und
aktuell oder in absehbarer Zeit ("bereite" Mittel)
zur freien Verfügung stehen.
 

Rz. 24

Der Einsatz von eigenen Mitteln und die "normativen" Verschonungstatbestände hängen vom konkreten Bedarf des Bedürftigen ab, also von der Art der zu gewährenden Leistung. Im Fallbeispiel 8 sind dies

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – §§ 19 Abs. 2, 41 ff. SGB XII,
Hilfe zum Lebensunterhalt – §§ 19 Abs. 1, 27 ff. SGB XII,
Arbeitslosengeld II – § 19 SGB II.

Für Menschen, die Hilfen in speziellen Lebenslagen benötigen, greifen die diesen Normen vorgehenden Spezialnormen. (§ 19 Abs. 3 SGB XII).[28]

 

Rz. 25

Einkommen und Vermögen wirken im sozialhilferechtlichen Leistungsverhältnis rechtshindernd. Fließen sie während des Leistungsbezuges zu, wirken sie ganz oder teilweise rechtsvernichtend.

 

Rz. 26

 

Rz. 27

Was im SGB II und SGB XII unter Einkommen verstanden wird, ergibt sich aus

§ 11 SGB II und der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung – Alg II-VO,[29]
§ 82 SGB XII und der Verordnung zur Durchführung des § 82 SGB XII.[30]

Die Vermögensregeln ergeben sich aus § 12 SGB II und § 90 SGB XII. Ansprüche aus Erbfall und Schenkung können unter beide Begriffe fallen.

 

Rz. 28

Der Anspruch auf Grundsicherung nach § 19 SGB XII wie auf Arbeitslosengeld II nach § 19 SGB II könnte im Fallbeispiel 8 durch die Erbschaft entfallen, wenn es sich um einsatzpflichtiges Einkommen oder Vermögen handelte.

 

Rz. 29

Einkommen und Vermögen werden nach der ständigen Rechtsprechung von BVerwG und BSG nicht zivilrechtlich, sondern nach dem Zeitpunkt des Zuflusses innerhalb oder außerhalb des Bedarfszeitraums (im SGB II und bei der Grundsicherung nach § 41 SGB XII ist es der Zeitpunkt ab der Antragsstellung) voneinander abgegrenzt.

Wann Mittel in diesem Sinne zufließen, wird nach dem tatsächlichen Zufluss bestimmt, es sei denn, das Gesetz würde etwas anderes bestimmen (normativer Zufluss).[31] Eine Erbschaft ist nach der Rechtsprechung ein typisches Beispiel für einen solchen normativen Zufluss. Schon mit dem Erbfall kann der Erbe über die Erbschaft verfügen. Deshalb ist bei einer Erbschaft das Datum des Erbfalls der Tag, der bestimmt, ob etwas die Qualität als Einkommen oder Vermögen hat. Als weiteres Differenzierungsmerkmal kommt der Bedarfszeitraum hinzu. Alles, was jemand schon vor Antragstellung hatte, ist im SGB II Vermögen. Im SGB XII ist alles, was jemand schon vor dem Bedarfszeitraum hatte, Vermögen. Bei einem Erbfall im Leistungszeitraum ist die Erbschaft nach der Rechtsprechung demnach Einkommen.

 

Rz. 30

Grundsätzlich galten daher bis zum 1.8.2016 alle "eingehenden Einnahmen, Zahlungen, Zuflüsse, Zuwendungen oder andere Leistungen in Geld oder Geldeswert ohne Rücksicht auf ihre Herkunft, Rechtsnatur und Steuerpflichtigkeit, die der Leistungsberechtigte erst im Bedarfszeitraum erhält",[32] als Einkommen.

 

Rz. 31

Fallbeispiel 8 wäre also bis zum 1.8.2016 mit einer Prüfung des einsatzpflichtigen Einkommens (§ 82 SGB XII, § 11 SGB II) zu beginnen gewesen. Der Betrag von 2.000 EUR ist in beiden Gesetzen Einkommen in Geld ohne Verschonungsmöglichkeit. Eine solche gibt es nur beim Vermögen.

Die geerbte Eigentumswohnung stellt eine Einkunft in Geldeswert dar; somit hätte es sich nach alter Rechtslage in beiden Leistungsgesetzen einheitlich um Einkommen gehandelt. In 2016 hat der Gesetzgeber dann aber § 11 Abs. 1 SGB II geändert und aus der dortigen Einkommensdefinition den Begriff "Geldeswert" gestrichen und hierfür eine erstaunliche Begründung gefunden:

Zitat

"Die Prüfung [von bedarfsdeckenden Bestandteilen des Regelbedarfs] war außerdem aus systematischen Gründen widersprüchlich, weil der Regelbedarf als pauschalierte Geldleistung grundsätzlich nicht in seine Bestandteile aufgeschlüsselt werden kann."

Zudem bleiben auch künftig Einnahmen in Geldeswert, die nicht regelbedarfsrelevant sind, als Einkommen unberücksichtigt. Solche Einnahmen konnten schon nach bisherigem Recht nur dann berücksichtigt werden, wenn sie bereit sind, d.h. tatsächlich und aktuell im Bedarfsmonat für den Lebensunterhalt eingesetzt werden können. Bei Einnahmen in Geldeswert ist dies häufig nicht sichergestellt, da sie zunächst veräußert werden müssen, um für den Lebensunterhalt eingesetzt werden zu können. Zudem ist die B...

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