Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 152
Die sozialhilferechtliche Erbenhaftung ist eine Form des "Sozialhilfe"-Regresses. Sie ist eine Reaktion darauf, dass eigentlich während der Leistungszeit beim Leistungsbezieher Vermögen vorhanden war, das aber wegen seines Schonvermögencharakters dem Leistungsanspruch nicht entgegengehalten werden konnte.
Rz. 153
Sie dient im Sozialhilferecht des § 102 SGB XII dazu, aus dem lebzeitigen Schonvermögen des Leistungsempfängers und seiner Einsatzgemeinschaft nach dem Tod des Leistungsempfängers kein postmortales Schonvermögen für die Erben werden zu lassen. Der Erbe muss für den lebzeitigen Leistungsbezug einen Kostenbeitrag für die letzten zehn Jahre aus dem Nachlass leisten. Für die Grundsicherung des § 41 SGB XII hat der Gesetzgeber die sozialhilferechtliche Erbenhaftung in § 102 Abs. 5 SGB XII ausdrücklich ausgeschlossen.
Rz. 154
Im SGB II hat der Gesetzgeber 2016 die Erbenhaftung nach § 35 SGB abgeschafft. Das SGB VIII und das BAföG kennen überhaupt keine sozialrechtliche Erbenhaftung.
Rz. 155
Die nachrangigen Gesetze, die hinsichtlich des Schonvermögens auf § 90 SGB XII verweisen, nehmen gleichwohl keinen Bezug auf die Erbenhaftungsregelung des § 102 SGB XII. Und soweit sie für den Bezug der Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. SGB XII noch galt, so wurde sie mit einem Federstrich durch die Ausgliederung der Eingliederungshilfe in das SGB IX ab dem 1.1.2020 ebenfalls abgeschafft.
Rz. 156
Damit erfährt die Vermächtnislösung des Behinderten-/Bedürftigentestaments eine enorme Aufwertung, denn die Befürchtung, der Nachvermächtnisnehmer könne nach § 102 SGB XII in Anspruch genommen werden, löst sich für alle praktischen Fälle von behinderten Menschen, die Eingliederungshilfe nach §§ 90 ff. SGB IX und Grundsicherung nach § 41 SGB XII beziehen, auf. Sie verbleibt – wenn die Befürchtung nicht ohnehin aus anderen Gründen keine Grundlage hat – nur für die Sozialhilfeleistungen des SGB XII, also z.B. Hilfe zum Lebensunterhalt nach §§ 27 ff. SGB XII und Hilfe zur Pflege nach §§ 61 ff. SGB XII.
Rz. 157
Zusammenfassung
Zuflüsse aus Erbfall und Schenkung sind in nachrangigen Sozialleistungsgesetzen Einkommen und/oder Vermögen. Das gilt auch für den Schenkungsrückforderungsanspruch. Es gibt keine gesicherten oder einheitlichen Regeln, wie sich solche Sachverhalte auf einen nachrangig ausgestalteten Leistungsanspruch oder auf das Leistungsstörungsrecht (Regress) auswirken. In jedem Fall einer geplanten oder vollzogenen Bereicherung aus Erbfall oder Schenkung oder einer Entreicherung aus Schenkung sollte vorab geprüft werden:
▪ |
Was ist der konkrete sozialrechtliche Bedarf, um den es im konkreten Fall geht oder gehen kann? |
▪ |
Welchen Rechtscharakter hat der Zufluss aus Erbfall oder Schenkung/aus Schenkungsrückforderung für den konkret ermittelten Bedarf?
▪ |
Handelt es sich – bezogen auf den konkreten Bedarf – um Einkommen und/oder Vermögen oder ggf. nacheinander sogar beides? |
▪ |
Ist der Zufluss/Anspruch leistungsschädlich oder ausnahmsweise geschont? (= Gibt es im Gesetz geregelte, also "normative" Schutzschirme“?) |
|
▪ |
Was verursacht Leistungsstörungen? (= Wann kommt es zum "Sozialhilfe"-Regress?) |
▪ |
Nach welcher konkreten Methode wird der Nachrang für die konkret benötigte Leistung durchgesetzt? |