Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 3
Der BGH hat in seinen Entscheidungen zur negativen Erbfreiheit und zum Behindertentestament formuliert, dass der Nachranggrundsatz durchlöchert oder durchbrochen sei. Deswegen sei ihm als Grundsatz die Prägekraft weithin genommen.
Tatsächlich gibt es aber weder im SGB I noch in Gesetzen mit primär fürsorgerischer Zwecksetzung, für die regelmäßig kennzeichnend ist, dass eigene Mittel vorrangig einzusetzen sind und bestimmte Einkommens- und ggf. Vermögensgrenzen nicht überschritten werden dürfen, "den einen" Nachranggrundsatz. Der Nachranggrundsatz ist ein Strukturprinzip. Mit ihm gestaltet der Gesetzgeber das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG aus. Und aus der Analyse der einzelnen nachrangig ausgestalteten Gesetze ergibt sich, dass es kein Gesetz gibt, in dem man allgemein etwas über die Prägekraft des Nachranggrundsatzes finden kann. Das führt in der Konsequenz für unterschiedliche Lebenssachverhalte zu unterschiedlichem Leistungs- und unterschiedlichem Leistungsstörungsrecht.
Rz. 4
Die unterschiedlichen Ausgestaltungen des Nachranggrundsatzes heute haben ihre Ursache in einer rechtlichen Entwicklung von der Armenfürsorge über die Sonderfürsorge zum modernen Recht des sozialen Nachteilsausgleichs. Nach und nach haben sich aus bestimmten sozialpolitischen Gründen bei den Regeln der Existenzsicherung Nichtanrechnungs- und Nichtrückforderungsregeln sowie unterschiedliche Leistungsniveaus herauskristallisiert. Die heutigen Tatbestände über den Einsatz und Schutz von Einkommen und Vermögen im Existenzsicherungsrecht leiten ihre Herkunft aus den lediglich aus Billigkeitsgründen geschaffenen Tatbeständen in den §§ 14, 15 der "Reichsgrundsätze" ab, weil man diejenigen besser stellen wollte, die "alt oder erwerbsunfähig waren und infolge eigener oder fremder Vorsorge ohne die eingetretene Geldentwertung nicht auf die öffentliche Fürsorge angewiesen gewesen wären". Nach und nach sind dann zu den reinen Existenzsicherungssystemen Systeme der sozialen Förderung hinzugetreten, die dem Grunde nach zwar nicht jedem zugutekommen sollen, aber auch nicht an die engen und strikten Regeln der Existenzsicherungssysteme des SGB II und des SGB XII gebunden sein sollten. Diese sozialpolitisch motivierten und gesetzlich geregelten Einkommensgrenzen und Verschonungstatbestände (BSG: "Mittel, die normativ nicht oder für andere Zwecke verwertet werden dürfen") stellen Durchbrechungen des Nachranggrundsatzes dar.
Rz. 5
Der Nachranggrundsatz ist eine Rechtsanwendungsregel, bei der es dem Gesetzgeber grundsätzlich freisteht, den Nachrang der Sozialhilfe näher auszugestalten, zu modifizieren oder auch in einer begrenzten Zahl von Fällen zurücktreten zu lassen. Oder anders gesagt: Der Gesetzgeber hat bei der Gewährung von Sozialleistungen, die an die Bedürftigkeit des Empfängers anknüpfen, grundsätzlich einen weiten Spielraum, wenn er Regelungen darüber trifft, ob und in welchem Umfang eigene Mittel des Empfängers auf den individuellen Bedarf angerechnet werden. Davon hat der Gesetzgeber kontinuierlich mehr Gebrauch gemacht, im Laufe der Jahrzehnte einen strikten Nachranggrundsatz kontinuierlich aufgeweicht und die "Durchbrechungen" je nach Zweck und Funktion der Sozialleistung immer weiter ausgedehnt. Das jüngste Beispiel ist das sog. Angehörigenentlastungsgesetz, das zum 1.1.2020 in Kraft getreten ist und Unterhaltsansprüche von Eltern und Kindern als Einkommen nach §§ 82 ff. SGB XII von der Anrechnung und vom Übergang auf den Sozialhilfeträger nach § 94 Abs. 1a SGB XII ausschließt. Damit wurde nicht nur eine weitere Aufweichung des Nachranggrundsatzes vorgenommen, sondern auch tief ins Unterhaltsrecht der §§ 1601 ff. BGB eingegriffen. Vergleichbares gilt für das am 1.1.2021 in Kraft getretene Bundesteilhabegesetz und die Neuregelung der Eingliederungshilfe.
Rz. 6
Rechtsgestaltung, -anwendung und -verteidigung werden durch immer neue Ausgestaltungen des Nachranggrundsatzes, die keinem strikten Prinzip folgen und manchmal sogar nur den Verhältnissen der jeweiligen Zeit geschuldet sind, immer schwieriger. Die Kommentarliteratur kritisiert die Uneinheitlichkeit z.T. als willkürlich und nicht zu harmonisieren. Und das betrifft auch erbrechtliche Fallgestaltungen und Schenkungen. So sei z.B. nicht verständlich, warum SGB II-Leistungsberechtigte, die in einer nach § 12 SGB II geschützten Immobilie zur Miete lebten, diese als Schonvermögen (§ 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII) erbten, während der Erbfall im SGB XII anzurechnendes Einkommen (§ 82 Abs. 7 SGB XII) generiere. Das bedinge eine hohe Zahl anfechtbarer Bescheide.
Außerdem verbiete es sich, aus dem Nachrang der Leistungen ein feststehendes sozialhilferechtliches Werturteil für § 138 BGB als "Einheit der Rechtsordnung" zu entnehmen bzw. mit der Sittenwidrigkeit ein sozialhilferechtliches Nachrangigkeitsprinzip als anerkannte Rechtsordnung abzusichern. Letztlich sei es Aufgabe des Gesetzgebers Regeln zu schaffen, wenn er gewisse erbrechtlic...