Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 7
Wesen des Nachranggrundsatzes ist es, dass der Bedürftige vorrangig eigenes Einkommen und/oder eigenes Vermögen einzusetzen hat. Das erfolgt je nach Art der beanspruchten Leistung mehr oder minder strikt.
Methodisch geschieht das am häufigsten durch Anrechnung solcher Mittel auf den Bedarf. Und stehen solche Mittel gegenwärtig bedarfsdeckend als "bereite" Mittel nicht zur Verfügung, so muss der Nachrang nachträglich wiederhergestellt werden. Das nennt man landläufig "Sozialhilfe"-Regress.
Rz. 8
Kommt es darauf an, zunächst den Bedarf zu decken, kann der Nachranggrundsatz auch durch die Geltendmachung von Kostenbeiträgen (z.B. §§ 91, 92 Abs. 2 SGB VIII, §§ 92, 136 SGB IX) realisiert werden. Nachrangige Leistungen, die von der unmittelbaren Existenzsicherung weiter entfernt sind, realisieren den Nachranggrundsatz z.B. durch Kostenbeiträge mit "Vorwarnung", so z.B. das SGB VIII. Z.T. werden die unterschiedlichen Methoden der Realisation des Nachranggrundsatzes auch miteinander vermischt. So gilt z.B. im ausdrücklich nach § 91 SGB IX nachrangig ausgestalteten Eingliederungshilferecht des SGB IX der steuerrechtliche Einkommensbegriff, der zu einem Kostenbeitrag führt, der von der zu gewährenden Leistung abzuziehen ist, während für den Vermögenseinsatz (§ 139 SGB IX) ein eigener Vermögensbegriff gilt, mit einer Verweisung auf § 90 SGB XII. Das Vermögen ist nach Maßgabe des Bedarfsdeckungsprinzips vor der Inanspruchnahme von Leistungen unter Berücksichtigung von Schontatbeständen einzusetzen.
Rz. 9
Es gibt auch keinen einheitlichen Einkommensbegriff in nachrangigen Leistungsgesetzen. Selbst da, wo ein nachrangig ausgestaltetes Gesetz auf den Einkommens- oder Vermögensbegriff eines anderen Gesetzes ausdrücklich verweist (z.B. die relativ häufige Verweisung auf § 90 SGB XII, wie in § 92 Abs. 1a SGB VIII oder § 1836c Nr. 2 BGB), bedeutet das nicht, dass man "bei der in Bezug genommenen Begrifflichkeit verharrt". § 135 SGB IX, § 21 BAföG und § 14 WoGG gehen beispielsweise von der Summe der (positiven) Einkünfte i.S.v. § 2 EStG aus und unterscheiden sich dann noch weiter voneinander, weil sie andere Einkünfte zusätzlich als Einkommen definieren. Die einkommensteuerrechtliche Definition des Einkommens führt aber gleichermaßen dazu, dass Zuflüsse aus Erbfall und Zuflüsse/Abflüsse aus Schenkung keine Fragen nach der Anrechnung daraus sich ergebender Ansprüche als Einkommen aufwerfen, denn weder Schenkungen, Schenkungsrückforderungsansprüche, Pflichtteilsansprüche noch Erbschaften stellen Einkommen i.S.v. § 2 EStG dar.
Rz. 10
Die klassischen Existenzsicherungssysteme des SGB II und des SGB XII – auf die viele andere nachrangige Gesetze verweisen – haben eine solche Begrenzung nicht und gehen vom Einkommen als Zufluss von Einkünften aus und unterscheiden sich inhaltlich nach dem bloßen Zufluss in Geld (§ 11 SGB II) oder dem Zufluss in Geld und Geldeswert (§ 82 SGB XII). In solchen Systemen kann einmaliges bzw. nichtverbrauchtes Einkommen sogar seinen "Aggregatzustand" von Einkommen in Vermögen ändern (§ 11 Abs. 3 SGB II, § 82 Abs. 7 SGB XII).
Rz. 11
Der Personenkreis, der zum Mitteleinsatz herangezogen wird, variiert von der Heranziehung einer Einsatz- oder Bedarfsgemeinschaft unter Verdrängung familienrechtlicher Regeln zum Unterhalts- und Güterrecht (SGB II, SGB XII) bis hin zum völligen Verzicht auf die Einbeziehung von nicht getrenntlebenden Ehegatten und Lebenspartnern.
Rz. 12
Auch die Berechnung von Einkommen und Vermögen erfolgt in jedem nachrangigen Gesetz nach anderen Regeln. Schulden z.B. sind bei der reinen Existenzsicherung so gut wie gar nicht abzugsfähig, bei der Hilfe in speziellen Lebenslagen (§ 19 Abs. 3 SGB XII i.V.m. den Spezialbedarfen, z.B. Hilfe zur Pflege nach §§ 61 ff. SGB XII) als besondere Belastung dann doch ausnahmsweise abzuziehen. Und mal ordnet das Gesetz wie in § 93 Abs. 3 S. 4 Nr. 3 SGB VIII den Schuldabzug beim Einkommen ausdrücklich an und negiert ihn beim Vermögen, mal bestimmt das Gesetz ausdrücklich – wie in § 28 Abs. 3 BAföG –, dass Schulden und Lasten vom Vermögen abgezogen werden.
Rz. 13
Die Bewertung von Einkommen und Vermögen differiert ebenfalls. Der Umfang, in dem der Einsatz von Einkommen und Vermögen abverlangt wird, ist unterschiedlich und variiert manchmal sogar innerhalb eines Gesetzes (vgl. z.B. § 19 Abs. 1 und 2 SGB XII gegenüber § 19 Abs. 3 SGB XII, der auf die Zumutbarkeit des Mitteleinsatzes abstellt und hierfür in §§ 85 ff. SGB XII Sonderregeln zur Verfügung stellt).
Rz. 14
Die Zeitpunkte und -räume der Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen unterscheiden sich in den unterschiedlichen Gesetzen voneinander.
Rz. 15
Es gibt auch keine einheitlichen Verschonungsvorschriften, unter die man Zuflüsse, z.B. aus Erbfall und Schenkung, subsumieren könnte. Z.T. wird komplett auf den Einsatz von Vermögen verzichtet. So wird nach § 140 Abs. 3 SGB IX (entspricht § 92 Abs. 2 S. 2 SGB XII) in der praktisch bedeutsamen Eingliederungshilfe der §§ 90 ff. SGB IX vollständig...