Dr. Gudrun Doering-Striening
A. Einleitung
Rz. 1
Der Nachranggrundsatz ist der Gegenpart zum Solidaritätsprinzip. Er steht für die Verantwortlichkeit des Einzelnen und z.T. seiner sog. Bedarfs- oder Einsatzgemeinschaft. Er steht dafür, dass eigenes Einkommen und Vermögen dieses Sozialverbandes vorrangig zur Bedarfsdeckung einzusetzen bzw. mindestens ein Kostenbeitrag aus eigenen Mitteln zu leisten ist. Ausdruck des Nachranggrundsatzes ist die Verpflichtung, realisierbare Ansprüche auch tatsächlich zu realisieren. Die Selbsthilfeverpflichtung gilt als Ausdruck der Menschenwürde. Verweigert der Hilfesuchende dies, kann die Hilfeleistung vollständig abgelehnt werden. Der wenn auch nur vorübergehende Entzug existenzsichernder Leistungen schafft allerdings eine außerordentliche Belastung für den Betroffenen. Die Versagung existenzsichernder Leistungen unterliegt deshalb strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit.
Rz. 2
Beim Verschenken/Geschenktbekommen und Erben/Vererben in Familien mit (potenziellen) Beziehern nachrangiger Sozialleistungen geht es stets darum, nachrangige Hilfe- und Förderungsleistungen trotz des Zuflusses/Abflusses von Mitteln aus Erbfall und Schenkung zu bekommen oder zu erhalten. Dazu muss man wissen, ob in den unterschiedlichen sozialrechtlichen Leistungs- und Regressverhältnissen ein einheitlicher Nachranggrundsatz gilt, der auch zu einem einheitlichen System des Regressrechts führt, oder ob es "den" Nachranggrundsatz gar nicht gibt und sowohl die Leistungssysteme als auch das Regressrecht grundverschieden sind und jeweils gesondert geprüft werden müssen.
B. Gibt es einen einheitlichen Nachranggrundsatz?
Rz. 3
Der BGH hat in seinen Entscheidungen zur negativen Erbfreiheit und zum Behindertentestament formuliert, dass der Nachranggrundsatz durchlöchert oder durchbrochen sei. Deswegen sei ihm als Grundsatz die Prägekraft weithin genommen.
Tatsächlich gibt es aber weder im SGB I noch in Gesetzen mit primär fürsorgerischer Zwecksetzung, für die regelmäßig kennzeichnend ist, dass eigene Mittel vorrangig einzusetzen sind und bestimmte Einkommens- und ggf. Vermögensgrenzen nicht überschritten werden dürfen, "den einen" Nachranggrundsatz. Der Nachranggrundsatz ist ein Strukturprinzip. Mit ihm gestaltet der Gesetzgeber das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG aus. Und aus der Analyse der einzelnen nachrangig ausgestalteten Gesetze ergibt sich, dass es kein Gesetz gibt, in dem man allgemein etwas über die Prägekraft des Nachranggrundsatzes finden kann. Das führt in der Konsequenz für unterschiedliche Lebenssachverhalte zu unterschiedlichem Leistungs- und unterschiedlichem Leistungsstörungsrecht.
Rz. 4
Die unterschiedlichen Ausgestaltungen des Nachranggrundsatzes heute haben ihre Ursache in einer rechtlichen Entwicklung von der Armenfürsorge über die Sonderfürsorge zum modernen Recht des sozialen Nachteilsausgleichs. Nach und nach haben sich aus bestimmten sozialpolitischen Gründen bei den Regeln der Existenzsicherung Nichtanrechnungs- und Nichtrückforderungsregeln sowie unterschiedliche Leistungsniveaus herauskristallisiert. Die heutigen Tatbestände über den Einsatz und Schutz von Einkommen und Vermögen im Existenzsicherungsrecht leiten ihre Herkunft aus den lediglich aus Billigkeitsgründen geschaffenen Tatbeständen in den §§ 14, 15 der "Reichsgrundsätze" ab, weil man diejenigen besser stellen wollte, die "alt oder erwerbsunfähig waren und infolge eigener oder fremder Vorsorge ohne die eingetretene Geldentwertung nicht auf die öffentliche Fürsorge angewiesen gewesen wären". Nach und nach sind dann zu den reinen Existenzsicherungssystemen Systeme der sozialen Förderung hinzugetreten, die dem Grunde nach zwar nicht jedem zugutekommen sollen, aber auch nicht an die engen und strikten Regeln der Existenzsicherungssysteme des SGB II und des SGB XII gebunden sein sollten. Diese sozialpolitisch motivierten und gesetzlich geregelten Einkommensgrenzen und Verschonungstatbestände (BSG: "Mittel, die normativ nicht oder für andere Zwecke verwertet werden dürfen") stellen Durchbrechungen des Nachranggrundsatzes dar.
Rz. 5
Der Nachranggrundsatz ist eine Rechtsanwendungsregel, bei der es dem Gesetzgeber grundsätzlich freisteht, den Nachrang der Sozialhilfe näher auszugestalten, zu modifizieren oder auch in einer begrenzten Zahl von Fällen zurücktreten zu lassen. Oder anders gesagt: Der Gesetzgeber hat bei der Gewährung von Sozialleistungen, die an die Bedürftigkeit des Empfängers anknüpfen, grundsätzlich einen weiten Spielraum, wenn er Regelungen darüber trifft, ob und in welchem Umfang eigene Mittel des Empfängers auf den individuellen Bedarf angerechnet werden. Davon hat der Gesetzgeber kontinuierlich mehr Gebrauch gemacht, im Laufe der Jahrzehnte einen strikten Nachranggrundsatz kontinuierlich aufgewei...