Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 121
Auch die Art und Weise, wie das Nachrangprinzip der Form nach durchgesetzt wird, ist höchst unterschiedlich und führt deshalb zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen.
Rz. 122
Fallbeispiel 17: Beratung für ein Behindertentestament
Die Eltern E haben einen behinderten Sohn S und wollen ihre Erbfolge gestalten. Sie haben ein klassisches Behindertentestament empfohlen bekommen und bitten um Gestaltung. Auf Nachfrage nach der Art der Behinderung und der Lebenssituation des Sohnes erklären sie:
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Variante 1: Unser Sohn ist erwerbsfähig. Er verdient rd. 650 EUR netto (rd. 815 EUR brutto) pro Monat. Aber er braucht wegen seiner Behinderung Leistungen zur Teilhabe am Leben, z.B. Assistenzleistungen in Höhe von rd. 3.000 EUR im Monat. |
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Variante 2: Unser Sohn ist von Geburt an behindert und ist dauerhaft nicht erwerbsfähig. Er kann sich nicht selbst versorgen und auch nicht ohne Hilfe alleine leben. Er arbeitet in einer Werkstätte für behinderte Menschen. |
Was wäre mit einer monatlichen Leibrente von 750 EUR brutto und einer Eigentumswohnung, die S selbst bewohnen soll?
Rz. 123
Jede Beratung muss damit beginnen, festzustellen, welche konkreten Bedarfe für den behinderten Sohn in der Zukunft gedeckt werden müssen, wenn die Eltern zur Versorgung nicht mehr zur Verfügung stehen. In beiden Fällen stellt sich die Frage, ob existenzsichernde Bedarfe gedeckt werden müssen und welche behindertenbedingten Bedarfe bestehen.
Rz. 124
Erwerbsfähige Menschen erhalten nur unter den Voraussetzungen des § 19 SGB II Leistungen der Grundsicherung und zur Deckung von Unterkunft/Heizung/Warmwasser. Auf den existenziellen Bedarf des S wird sein monatliches Einkommen von 650 EUR nach Maßgabe der §§ 11 ff. SGB II bedarfsdeckend angerechnet. Grundsicherungsbedarf und die Kosten für Unterkunft/Heizung/Warmwasser können davon aber nicht voll gedeckt werden, so dass eine Anspruchsberechtigung teilweise bestehen bleibt.
Rz. 125
Die vorgesehene Leibrente kommt hinzu. Eine monatliche Leibrente ist Einkommen i.S.v. § 11 SGB II. Nach dem im SGB II (und SGB XII) geltenden Bedarfsdeckungsgrundsatz wird die Leibrente – bereinigt um die nach den §§ 11 ff. SGB II vorgesehenen Abzugsposten – auf den existenziellen Bedarf des S voll angerechnet. Im Bedarfsdeckungsgrundsatz kommt zum Ausdruck, dass als Sozialhilfe nur das zu leisten ist, was zur Deckung des konkreten Bedarfs notwendig ist. Es ist nicht Aufgabe der Sozialhilfe, zur Vermögensbildung beizutragen. Z.T. wird vom Verbot der Vermögensmehrung gesprochen. Grundsicherungsleistungen fallen deshalb weg und ein unmittelbarer Nutzen für S entsteht durch die Leibrentenzuwendung nicht.
Rz. 126
Wird daneben noch Eingliederungshilfe nach §§ 90 ff. SGB IX benötigt, sind solche Leistungen, soweit es das Einkommen angeht, kostenbeitragsabhängig. Vermögen dagegen ist nach dem Bedarfsdeckungsprinzip einzusetzen. Nach § 140 SGB IX haben antragstellende Personen sowie bei minderjährigen Personen die im Haushalt lebenden Eltern oder ein Elternteil vor der Inanspruchnahme von Leistungen nach Teil 2 des SGB IX die erforderlichen Mittel aus ihrem Vermögen aufzubringen.
Rz. 127
Die Bruttoeinkünfte des S aus Erwerbstätigkeit betragen rd. 815 EUR pro Monat = 9.780 EUR jährlich für einen Alleinstehenden in der Steuerklasse 1. Die Leibrente ist ebenfalls eine steuerliche Einkunftsart nach § 22 EStG und fällt somit auch unter den Begriff des Einkommens nach § 135 SGB IX. Das Jahreseinkommen des S beträgt somit rd. 18.780 EUR brutto.
Rz. 128
Ein Kostenbeitrag zu den Aufwendungen des Eingliederungshilfeträgers ist aufzubringen, wenn das Einkommen i.S.d. § 135 SGB IX überwiegend
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aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit erzielt wird und 85 % der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV übersteigt, |
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aus einer nicht sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung erzielt wird und 75 % der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV übersteigt oder |
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aus Renteneinkünften erzielt wird und 60 % der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV übersteigt. |
Der Betrag ist nicht nachträglich zu errechnen wie bei anderen Kostenbeitragsregeln, sondern nach § 137 SGB IX von der zu erbringenden Leistung abzuziehen.
Rz. 129
Die jährliche Bezugsgröße nach § 18 SGB IV beträgt (Stand 2021) 39.480 EUR West und 37.380 EUR Ost und entbindet den S somit von einem Kostenbeitrag aus seinen Einkünften incl. Leibrente. Überstiegen die Einkünfte die Einkommensgrenze, dann würde ein monatlicher Beitrag in Höhe von 2 % des den Betrag nach § 136 Abs. 2–5 SGB IX übersteigenden Betrags als monatlicher Beitrag aufzubringen sein.
Rz. 130
Ergebnis Fallbeispiel 17 – Variante 1:
Die eigenen Einkünfte des S werden nach der Bedarfsdeckungsmethode bei der Grundsicherung bedarfsdeckend angerechnet. Beide Einkunftsarten zusammengerechnet führen im konkreten Fall zum Wegfall des Anspruchs auf Grundsicherung.
In der Eingliederungshilfe des SGB IX erreicht das Erwerbseinkommen des S die Höchstbetragsgre...